Editorial Heft 194 (2/2020)

Greta Thunberg ist ein Kind, das Millionen inspiriert. Sie ist Vorbild der Klima­jugend, spricht mit Staatschefs und Berühmtheiten und wirkt dennoch scheu, verlassen, verletzlich und verwundbar. Gleichwohl äußert sie unbeirrbar und mächtig ihre Wahrheit als eine unumstößliche Wahrheit, mit einem Impetus, der tief in ihrem Inneren entstanden zu sein wirkt, über sie hinausragt und sie in den Dienst ihres großen Anliegens stellt, Leben zu ermöglichen. Etwas, das in der Luft lag, hat sie ergriffen, dabei unschuldig, unbewegt und entschlossen wirkend, wie das göttliche Kind, das sich unbeirrbar und dennoch höchst verletzlich der Welt stellt, seine Wahrheiten verkündet und uns dabei in die Augen blickt.
Wenn wir es denn hören und sehen wollen. Wer Augen und Ohren verschließt, dessen Bewusstsein verarmt, doch immer noch schaut das Kind. Es ist das ewige Kind, das uns an uns selbst erinnert, an die Tage der Kindheit, wie es C. G. Jung 1940 inmitten des Zweiten Weltkrieges, in einer bedrohlichen Zeit, beschrieb.
Das Kind sei mehr als ein Kind, es repräsentiere einen nicht bewussten Aspekt der Kollektivseele, es ist »ausdrücklich keine Kopie des empirischen ›Kindes‹ […]: Es handelt sich um ein göttliches, wunderbares, eben gerade nicht menschliches Kind« (Jung, 1940, Fußnote zu § 273). »Es ist das Verlassene und Ausgelieferte und zugleich das Göttlich-Mächtige, der unansehnliche, zweifelhafte Anfang und das triumphierende Ende. Das ›ewige Kind‹ im Menschen ist eine unbeschreibliche Erfahrung, eine Unangepasstheit, ein Nachteil und eine göttliche Prärogative, ein Imponderabile, das den letzten Wert und Unwert einer Persönlichkeit ausmacht« (a. a. O., § 300).
Greta ist inmitten der Klima- und Viruskrise aktiv, die liebgewordene Vorgänge und Abläufe, Traditionen und Normen auf den Kopf stellt. Krisen, die uns zweifeln lassen, insbesondere wenn zusätzlich ein kleines, unsichtbares Virus so viel auf den Kopf zu stellen vermag, begleitet von der vielleicht noch größeren Bedrohung durch das Klima. Doch da steht das Kind Greta einerseits verschreckt und verletzt, andererseits unüberhörbar ihre Wahrheit verkündend. Greta zweifelt nicht, sie weiß, während wir Übrigen in ständigen Ambivalenzen gefangen sind. Die Ikone Greta ist wie das ewige Kind, das trotz allem da ist.
Diese Ausgabe unserer Zeitschrift behandelt das Thema des ewigen Kindes, einen jungianischen Begriff, der die Gleichzeitigkeit von Verletzlichkeit (Schutzbedürfnis) und Überlegenheit (Mächtigkeit) bezeichnet, wie auch die ewige Hoffnung auf eine erlösende Zukunft. Das ewige Kind, verletzlich und unverletzlich zugleich, gibt Hoffnung in einer Umwelt, deren Klima und Virengefahr wir ausgeliefert sind. Die archetypischen Kräfte rund um uns sind stärker geworden und mit ihnen die archetypischen Bedürfnisse; das Kind soll uns retten. Damit wir nicht zu Saturn werden, der seine eigenen Kinder frisst — so der Titel eines Bildes von Francisco de Goya, das in Angelica Löwes Beitrag in diesem Heft eine zentrale Rolle spielt —, stellt sich uns die Frage der Verantwortung und die können wir nicht an das ewige Kind delegieren, was nicht heißt, dass wir nicht hinschauen und hinhören sollten.
Der vorliegende Band publiziert die Vorträge aus der Werkstatt-Tagung ­»Abandoning the Child – Das Kind verlassen« in Berlin am 29./30. November 2019, die in einer Kooperation des Berliner Lese- und Arbeitskreises für Arche­typische Psychologie und des Arbeitskreises für Analytische Psychologie und Philosophie (AKPP) veranstaltet wurde. Über die Tagung hat Dieter Treu am Schluss des vorliegenden Bandes einen schönen Tagungsbericht verfasst. Die inspirierende Arbeit James Hillmans (»Abandoning the Child«), die den Tagungstitel anregte, wird in diesem Heft erstmals vollständig auf Deutsch in einem ersten Teil veröffentlicht. Der zweite Teil wird im nächsten Heft folgen.
1971 hielt James Hillman an einer Eranos-Tagung in Ascona einen Vortrag mit dem Titel »Abandoning the Child«. Hillmans zentrales Anliegen war, die subjektive Bedeutung im Objektiven zu erkennen, denn die subjektive Seele ist in der Psychotherapie Subjekt, Objekt und Methode zugleich: Die so verstandene Psychologie unterscheidet sich sehr von anderen Perspektiven, weil hier das Wesentliche von der Person des Psychologen abhängt. Hillmans These ist, wer Psychologie positivistisch sehe, grenze das Kind aus, lasse es zurück. Mit dem »Kind« ist nicht das faktische, biografische Kind gemeint, sondern das Kind der Fantasie. Was Hillmann interessiert, ist das Wirken dieses Fantasiekindes in uns, des arche­typischen Bildes des Kindes in der subjektiven Psyche. In diesem Zusammenhang greift Hillmann auf den Essay »Über die Psychologie des Kindheitsarchetyps« von Jung aus dem Jahr 1940 zurück.
Hillmanns Text gibt einen sehr differenzierten und sorgfältigen Überblick über das Kindmotiv bei Jung und seine Weiterentwicklung, über das »ewige Kind« im Menschen, das so gegensätzliche Dinge vereint wie das Verlassene wie auch das Göttlich-Mächtige, und darüber hinaus das Zukünftige, Heldenhafte, Unverwundbare und Hermaphrodite. Das Kindmotiv im Traum wiederum deutet Hillmann als einseitig gewordenes Bewusstsein, als ein Kind, das bedroht, hilflos, verzweifelt und erschreckt ist. Dieses Kind gilt es anzuhören und anzunehmen. Hillmann beschreibt diese Vorgänge sehr schön in Bezug auf die Ehe, die Psychotherapie, die christliche Religion u. v. m.
Auch der Beitrag von Gustav Bovensiepen über »Das verlassene Kind –
Das böse Kind. Überlegungen zu einer destruktiven Selbstentwicklung« behandelt das Thema Kind und den Kindarchetyp von C. G. Jung. Bovensiepen sieht idealisierende Tendenzen bei Jungs Haltung zum Heldenweg und dem Kind als Selbstsymbol, weil in diesen Auffassungen keine negativen Helden integriert sind. Destruktive Verläufe sind deshalb nicht vorstell- und erklärbar, obwohl Jung das Schattenkonzept entwickelte und in seinem Gottesbild das Böse integrierte. Jungs Vorstellung des Kindarchetyps enthält archetypische Bilder des Kindgottes, die in Krishna, Buddha, Zagreus oder Jesus verkörpert sind. ­Destruktive Verläufe des Heldenweges sind aber in der Entwicklungspsycho­logie bekannt. Bovensiepen erwähnt früh emotional vernachlässigte Kinder, die in ihrer Entwicklung stehen geblieben sind und sich an die unbewusste Fantasie klammern, bereits als »böse« (ewige) Kinder geboren worden zu sein und sich mit destruktiven Aspekten der »Großen Mutter« (Neumann) identifizieren. Bovensiepen führt dazu die gewalttätige Individuation an, wie sie etwa in Süskinds Roman
Das Parfüm oder beim norwegischen Massenmörder Breivik anzutreffen ist. Er erläutert in seinem eindrücklichen und wichtigen Beitrag Theorie und Praxis dieses destruktiven Individuationsweges.
Angelica Löwes Beitrag »Das Herz träumt zarte Fabeln…« nimmt Prozesse unbewusster Kommunikation in einer fünfjährigen Arbeit mit einer Patientin zum Anlass, über das nachzudenken, was Wandlung ermöglicht, insbesondere dann, wenn die psychischen Zustände des Gegenübers nur schwach ausgeprägt sind. Es sind Überlegungen und Reflexionen, die ihr nachträglich kommen, um das zu verstehen, was ihr im analytischen Raum vorerst nur in der Gegenübertragung, in auftauchenden Bildern, Körpererfahrungen und Träumen erfahrbar ist. Ogdens Begriff der »Rêverie« sowie Kristevas Begriff »Abjektion« sind ihr besonders hilfreich, um formlose oder fluide, präverbale Zustände im analytischen Raum zu beschreiben. Der Begriff der Abjektion (»Verstoßung«) bezeichnet ein dynamisches Geschehen vor jeder Subjekt-/Objekt-Bildung.
Löwe geht davon aus, dass erst dann eine produktive Arbeit möglich wird, wenn sich beim analytischen Paar ein Prozess unbewusster Kommunikation abzeichnet. Dieser beginnt bei der Analytikerin mit dem halluzinatorischen Bild eines Indianers und dem Gefühl des Ekels, was ihr hilft, wesentliche Aspekte ihrer Gegenübertragung zu verstehen. Erst als die Patientin von einem Kind zu träumen und über Verlust zu sprechen beginnt, setzt etwas ein, das sich von der zuvor herrschenden Umklammerung unterscheidet: die erste Erfahrung von Trennung. Löwes Arbeit ist ein wichtiger Beitrag, der frühe Körper- und Seins­zustände in formlosen Räumen beschreibt und er regt an, wie damit therapeutisch umgegangen werden kann.
Elisabeth Grözinger nimmt in der Rubrik »Denkbild« die Statue des »Rotkäppchens« in Hégenheim zum Anlass, über diese Figur und das Märchen psycho­logisch nachzudenken und in Bezug zur aktuellen Geschlechterdynamik zu setzen.
Den Geist und die Stimmung der DDR einzufangen, vermag der Beitrag von Stefan Wolf: »Sich erinnern, ohne zu urteilen. Der Film Gundermann und das Bild vom Leben in der DDR«. Der Film handelt von der historischen Figur Gerhard Gundermann, geboren 1955, Baggerfahrer im Braunkohletagebau und populärer Liedermacher. Die Figur erinnert den Autor an seine eigene Vergangenheit in der DDR in den 80er Jahren, an die Stimmungen und Sehnsüchte dieser Ära. Er beschreibt in einer feinfühligen, mit den Widersprüchen dieser Zeit ringenden Art und Weise, was Gundermann auf seinem »Heldenweg« geschieht, und er lässt Platz für die in der DDR so speziellen Zwischentöne und Mehrdeutigkeiten. ­Gundermann hat Ideale, fühlt sich dem Sozialismus verbunden und lässt sich auch zur Stasi-Mitarbeit überreden, jedenfalls für ein paar Jahre. Wolf schildert, wie der Film durch seinen kenntnisreichen Realismus die Balance hält zwischen dem Wirrwarr von Idealen, von ideologischen Träumereien und bizarren Zwängen dieser Gesellschaft. So kann sich ein Stimmungsbild entfalten vom Lebensgefühl junger Leute, die den gleichen Lebenshunger verspüren wie ihre Altersgenossen im Westen, aber auf ideologische Reglementierungen stoßen, zu denen sie sich irgendwie verhalten müssen.
Auch in diesem Beitrag findet die Metapher des Kindarchetyps Verwendung, denn der Figur Gundermanns ist etwas Kindliches eigen, sein Habitus ist unbekümmert, aber auch verführbar und egozentrisch. Gundermann repräsentiert, so Wolf, Züge des »ewigen Kindes«; ein verletzbarer, aber gleichwohl auserwählter »Göttersohn«.
In unserer Reihe »Jungianische Identitäten« beschreibt Elisabeth Adametz in einem eindrücklichen Artikel ihren Werdegang als jungianische Analytikerin in Berlin. Ausgehend von ihrer Lehranalyse, schildert sie ihre Annäherung an die Ideen Jungs und ihre Arbeit am Berliner Jung-Institut. Die Bedingungen, die sie hier vorfindet, die konkreten persönlichen, beruflichen und vor allem die geschichtlichen, fügen sich in ihrer Schilderung zu einem lebendigen Porträt, in dem die stete Auseinandersetzung mit der Haltung Jungs im Nationalsozialismus einen zentralen Platz einnimmt. Persönliche und kollektive Geschichte verbinden sich in diesem Beitrag zum facettenreichen Bild eines engagierten Lebens.
Michael Péus legt in seinem Beitrag »Die Analytische Psychologie zwischen Selbstbefreiung und Selbstbegrenzung« die erkenntnistheoretischen Überlegun­gen von Jung dar. Péus ist dem politisch korrekten, wissenschaftlichen Zeitgeist gegenüber skeptisch und greift deshalb auf Jungs Wissenschaftsverständnis zurück, das eine rückhaltlose Selbstbesinnung auf die Psychologie verlangt, die der Philosophie vorangestellt ist und die Subjekt- und Objektvorstellungen in ihrer zirkulären Dynamik sieht. Eine solche wissenschaftstheoretische Position ringt um Selbstbegrenzung und Selbstkorrektur, die Péus symbolisch gesehen auch bei den mythischen Figuren des allessehenden Argos und des einäugigen ­Christophoros vermutet. Das weitumfassende Subjektverständnis, das Péus bei Jung findet, hat für die Legitimation als Wissenschaft problematische, aber sehr viel stärker auch konstruktive Konsequenzen.
Carsten Caesar untersucht in seinem Beitrag »Techno, Drogen, Leere – über die Entwicklung eines lebendigen inneren Raumes«, wie ein psychischer Raum im Kind entsteht, insbesondere im Austausch mit den jeweiligen sozialen Umweltbedingungen und Entwicklungsbedingungen. Sind diese ungünstig, wird die Entwicklung von Modellen in einem sehr frühen, nichtsprachlichen Stadium erschwert, was später zu strukturellen Störungen führen kann, die psychotherapeutisch eine Herausforderung darstellen. Caesar entwickelt Vorstellungen über diesen frühen, inneren Raum, die uns helfen können, auch erwachsene Patienten besser verstehen zu können. Dafür greift er auf die Entwicklungsmodelle von Erich Neumann zurück, sowie auf diejenigen von Klein, Bion, Bick, Meltzer sowie von Nissen, der hauptsächlich über autistische Störungen publiziert hat. Gerade die autistische Störung gibt viel Einblick in diese frühen Prozesse. Nissen beschreibt Kinder, die nicht projizieren können und so Unlust nur durch Schreien, Weinen, Einkoten oder Einnässen ausstoßen können und nicht davon ausgehen, dass Milch mehr ist als nur Milch, nämlich mit der Mutter und ihrer Liebe verknüpft. Die Objektrepräsentanz bleibt somit unsicher und ein innerer Raum schwierig zu bilden, innere Zustände können bedrohlich werden, z. B. mit der Angst verbunden sein, unendlich zu fallen. Caesar beschreibt in diesem interessanten Beitrag die frühen Austauschprozesse in einer ausführlichen Fallvignette.
Anna Gätjens Beitrag, »Smartphone.— Szenen zwischen Begehren und Begrenzung in der Behandlung eines jungen Mannes«, beschreibt in einer klinischen Fallstudie eines jungen Mannes Behandlungsszenen zwischen dem Begehren und dem Begrenzen im Umgang mit dem Smartphone. Der Gebrauch Digitaler Medien in der Adoleszenz ist ein gesellschaftlich wichtiges Thema, das nach Reflexion im Umgang ruft, gerade wenn Jugendliche permanent digital vernetzt sind, das macht ihren Beitrag so sinnvoll. Aber nicht nur deshalb: Gätjen weist darauf hin, dass Digitale Medien auch längst in der Therapie und im Behandlungszimmer angekommen sind. Sie überlegt, welche Auswirkung das Smartphone einerseits auf die Gegenübertragung wie auch Übertragung hat und wie es vielleicht an der Schnittstelle zwischen Übergangsobjekt und Erfahrungsraum als hilfreiches Objekt die Suche nach einer triangulierenden Funktion erleichtern kann. Andererseits bezieht sie den Umgang mit dem Smartphone auf den adoleszenten Entwicklungsprozess; sie sieht die adoleszente Konfliktdynamik von Autonomie und Kontrolle versus Bezogenheit mit dem Smartphone möglich werden. Theoretisch untermauert sie ihre Gedanken und das klinische Material mit der Theorie des szenischen Verstehens von Alfred Lorenzer.
Miriam Ehret, Andreas Kloiber, Elisabeth Schörry-Volk und Joachim ­Weimer verfassen einen Nachklang zur DGAP-Frühjahrstagung in Stuttgart vom 5. bis 8. März 2020. In der Rückschau betrachten sie die dreieinhalb Tage rund um das Thema »Faszination des Bösen« als sehr anregend und hochaktuell und gehen kurz auf die gehaltenen Vorträge ein.
Eine Filmrezension von Volker Münch und Buchbesprechungen schließen diese Ausgabe ab.
Auch diesmal ist das Heft reich gefüllt mit Artikeln. Wir möchten allen danken, die mit ihrem Engagement dieses Heft möglich machten. Wir wünschen ­Ihnen eine anregende Lektüre und hoffen, dass Sie bei diesem für die Analytische ­Psychologie nach C. G. Jung so wichtigen Thema viel Wissenswertes erfahren können.

Isabelle Meier, Zürich
Literatur

Jung C. G. (1940/1976). Zur Psychologie des Kindarchetypus. In Gesammelte Werke Bd. 9/1, (163–195). Olten: Walter.
Wampold, B.E., Imel, Z. E. & Flückiger, C. (2018). Die Psychotherapie-Debatte.
Was Psychotherapie wirksam macht. Hogrefe: Bern.