Editorial Heft 199 (1/2023)

Coronapandemie, Ukrainekrieg, Energiekrise – das »Katastrophische« scheint in ­Europa angekommen zu sein. Während verheerende Pandemien, Krieg und die mangelnde Versorgung mit (unter anderem) Wasser und Strom für Menschen in vielen Teilen der Welt schon lange zur Tagesordnung gehören, betrifft es nun also auch »uns«. Dabei leben die hiesigen Katastrophen – vom Krieg einmal abgesehen – bisher vor allem von ihrer Erwartung bzw. Ankündigung. Diese werden verbunden mit Appellen an die Bevölkerung, um die Katastrophe – sofern möglich – vielleicht doch noch abzuwenden, Stichworte Impfen oder Energiesparen. In jedem Fall sollen wir gut auf die Katastrophe vorbereitet sein: Als besonders eindrücklich empfand ich in Deutschland zuletzt den durchdringenden Alarm auf meinem Handy, als im Zuge eines »bundesweiten Warntages« am 8. Dezember 2022 alle verfügbaren Kanäle für Warnungen im Katastrophenfall getestet wurden. Der Warntag wurde durchgeführt mit dem Ziel, die Bevölkerung für Katastrophen »zu sensibilisieren« und sie vorzubereiten.
Doch welche psychischen Folgen hat die ständige, politisch offenbar gewollte Konfrontation mit der möglichen Katastrophe vor Ort, während die Katastrophen der ­»Anderen« außerhalb Europas allenfalls noch eine Randnotiz wert sind?
Laut Duden bezeichnet die Katastrophe ein »schweres Unglück«, ein »Naturereignis mit verheerenden Folgen« – wobei an anderer Stelle betont wird, dass der »human factor« auch hier immer mit eingerechnet werden müsse (vgl. Claessens, 1995, S. 67). Ursprünglich wurde das Wort jedoch verwendet zur Bezeichnung des Wendepunkts im antiken Drama, der frei nach Duden »entscheidenden Wendung zum Schlimmen«. Während also die Katastrophe den Wendepunkt zum Schlimmen beschreibt, verweist der Soziologe Dieter Claessens auf die Möglichkeit der Wendung zum Guten:
»Ist ›kat‹ das Vorzeichen für ›hinab‹ (=abwärts), dann muss man hier – auch griechisierend – von ›ana‹ sprechen, vom Hinauf« (Claessens, 1995, S. 69). Folglich stelle die »Anastrophe« ein »unerwartetes erfreuliches Großereignis« dar (ebd.).
Nehmen wir diese Möglichkeit der Wendung zum Guten ernst, so könnten wir fragen: Was, wenn der viel beschworene Wendepunkt, an dem wir uns momentan befinden, gar nicht in die Katastrophe führt? Sondern den Auftakt in etwas – längst (über-)fälliges – Gutes, Besseres darstellt? Und zwar nicht nur für »uns« in Europa, sondern für alle? Im Sinne eines »Guten Lebens für alle weltweit« wie es z. B. das Netzwerk Care Revolution formuliert?
Was bleibt, ist also die Hoffnung, denn, um nocheinmal aus der Webseite des ­Bundesamts für Katastrophenhilfe und Bevölkerungsschutz zu zitieren: »Wer weiß schon, was morgen kommt?«
Zu den Beiträgen dieses Hefts:
Der Beitrag von Judith Noske und Angelica Löwe wurde im Rahmen einer Co-Autorinnenschaft verfasst. Die beiden Autorinnen nähern sich gemeinsam dem, so behaupte ich, Katastrophischen in der Therapie an: der Suizidalität bzw. dem vollzogenen Suizid von Patientinnen. Auch hier spielt der eben besprochene Wendepunkt eine bedeutende Rolle, denn, so die Autorinnen: »Wenn wir mit suizidalen Menschen arbeiten, kommen wir an einen Punkt, bei dem es so laut werden kann oder so still, das wir nicht mehr gut hören können und so leer, dass es nichts zu verstehen gibt« und erst nachträglich Verbindung möglich wird.
Der Beitrag von Wulf Hübner befasst sich mit der transgenerationalen Weitergabe von Traumata und dem daraus resultierenden »Verdrängen, Spalten, Verleugnen, Selbstabwertung und Idealisieren«. Es geht also in einem weiteren Sinne um die ­Abwehr der Katastrophe, da diese Mechanismen letztlich »dem Schutz vor Unerträglichem« dienen und damit dem »Aufrechterhalten einer illusionären Autonomie« – was könnte angesichts der Ohnmacht, die die Katastrophe auslöst, weniger nachvollziehbar sein?
Mit dem Katastrophischen bei C. G. Jung, der das »Katastrophische als Grund­disposition des Psychischen« in den Blick nimmt, befasst sich der Beitrag von Michael Péus. Besonders eindrücklich werden hier die Grenzen des Denkens und ­Beschreibens angesichts der Katstrophe beschrieben: So kann es laut Péus immer nur ein »Hinterherdenken« der Katastrophe als Ausdruck ihrer Verarbeitung geben – oder eben das Vorausdenken, sich Ausmalen in ihrer Befürchtung.
Roman Lesmeisters Essay »Über Ruinen« behandelt gleichsam »die Leiden der zertrümmerten Stadt wie die Leiden des beschädigten, traumatisierten Subjekts«. Angesichts massiver Destruktivität als Ursache derselben gelte es, so Lesmeister, etwas zu tun, »und zwar etwas Haltgebendes, Linderndes, Tröstendes, unbedingt Aufbauendes« – möge dies als Reaktion auf die Katastrophe immer wieder aufs Neue gelingen!
Die Katastrophe der Umwelt- und Klimakrise ist das Thema von David Porchons Beitrag. Porchon untersucht die psychischen Mechanismen von Selbsttranszendenz und der Verdrängung von Gewalt im Kontext der Klimakrise. Diese ermöglichen es dem Menschen, den human factor der Umweltkatastrophe zu externalisieren bzw. zu verdrängen. Dem stellt Porchon, in Anlehnung an das Jung´sche Konzept des Selbst, die Wiedervereinigung des Menschen mit seiner Umwelt gegenüber.
Mit den vielen Facetten des »Maskentragens« befasst sich Michael Péus in seinem Denkbild und schlägt dabei eine Brücke zwischen Prämoderne, Moderne und Postmoderne.
Luisa Zoppi setzt sich in ihrem Beitrag mit videogestützter Psychotherapie vor dem Hintergrund der Coronapandemie auseinander und beschreibt dabei anschaulich ihre anfänglichen Zweifel am Onlinesetting. Basierend auf Überlegungen zu analytischem Feld und Übertragung macht sie schließlich anhand von Fallvignetten deutlich, wie die räumliche Distanz in der Onlinetherapie neue seelische Prozesse ermöglichen kann.
Mit den Traumatisierungen von Joseph Beuys und ihren körperlichen Auswirkungen befasst sich der Beitrag von Christian Schubert. Der Autor stellt eine Studie vor, die ­Leben und Kunst Joseph Beuys´ mittels Tiefenhermeneutik, induktiver Kategorienbildung und Identifikation von selbstähnlichen biopsychosozialen Musterbildungen untersucht und sich darüber empirisch dem »fundamentalen Leib-Seele-Problem der Medizin« annähert.
Ursula Wirtz berichtet im Rahmen der Reihe Jungianische Identitäten über ihr am »Nein gereiftes Ja« zur Analytischen Psychologie C. G. Jungs. Wirtz beschreibt dabei u. a. sehr eindrücklich das Katastrophische, den »Seelenmord«, in der Therapie mit schwer traumatisierten Menschen. Sie verweist auf den Begriff der Enantiodromie, womit Jung die »Seelenbewegungen heilender Neuorganisation der Persönlichkeit« beschreibt: »Dieser heilende Umschwung in das Gegenteil geschieht in der Regel erst aus der völligen Verlorenheit im Heillosen, dann, wenn man glaubt, völlig am Ende zu sein« und markiert damit – im Unterschied zur Anastrophe – gewissermaßen den Wendepunkt nach der Katastrophe.
Um die Behandlung psychotischer Störungen geht es im Beitrag von Fulvio Marchese et al. Die AutorInnen stellen eine Langzeitstudie vor, in der mittels eines hermeneutischen Ansatzes eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten psychotischer Störungen untersucht wurde. Nicht zuletzt anhand von eindrücklichen Fallbeispielen beschreiben Marchese er al. schließlich die tiefen affektiven Dimensionen und die symbolischen ­Bedeutungen von Wahnvorstellungen und setzen damit einen Gegenpunkt zur dominanten Behandlungspraxis »der besten Ergebnisse in der kürzestmöglichen Zeit«.
Im letzten Beitrag stellt schließlich Gunnar Immo Reefschläger eine Studie vor, die Synchronizitätsphänomene im Zusammenhang mit Psychotherapien und Psychoanalysen untersucht. Reefschläger geht mittels Interviews der Frage nach, ob das Beachten von synchronistischen Momenten einen positiven Einfluss auf den Behandlungsverlauf in Psychotherapien haben kann. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Umgang der ­Behandelnden mit dem Phänomen wesentlich ist für den Effekt auf die Therapie.

Nicht zuletzt darf ich im Namen der Redaktion an dieser Stelle mit großer Freude Judith Noske als neues Redaktionsmitglied der Zeitschrift Analytische Psycho­logie begrüßen.

Inga Oberzaucher-Tölke, Konstanz

Literatur

Claessens, D. (1995). Katastrophen und Anastrophen. In W. R. Dombrowsky & U. Pasero (Hrsg.), Wissenschaft Literatur Katastrophe (S. 66–73). Westdeutscher Verlag.