Editorial Heft 192 (2/2019)

In ihrem Text Mein Ort im Raum der Jung’schen Psychologie (S. 421), der unter dem Titel Jungianische Identitäten eine neue Reihe in unserer Zeitschrift eröffnet und zu der Stefan Wolf eine Einführung geschrieben hat, berichtet Ingrid Riedel von Träumen, die sie in den Vierzigern hatte und die wegweisend für sie waren, »darunter« – wie sie schreibt – »… ein Traum, in dem ich ein schönes altes Haus ruhig niederbrennen ließ, ohne den Versuch zu unternehmen, es zu löschen – um auf einem offenen Acker neu anzufangen«. Sie erlebte diesen Traum sowie weitere als Appell aus dem Unbewussten, »etwas Kostbares fahren zu lassen« im Bewusstwerden der Notwendigkeit »sich neu auszurichten«.
Dieser »klassische Zugang«, wie Riedel ihre Hinwendung zur Jung’schen Therapie nennt, speist sich aus dem bereits seit der Antike bekannten Phänomen einer inneren Ausrichtung des Menschen auf das Ziel hin, zu sich selbst zu gelangen. Jung gab diesem Phänomen den Namen Individuationsprozess, und man kann mit einiger Berechtigung sagen, dass es sich um das Fundamentalkonzept Jung’scher Psychologie handelt. Diesem Konzept schließen sich im gegenwärtigen Diskurs weiterführende Fragestellungen an, sei es auf metapsychologischer, sei es auf der empirisch-forschenden Ebene.
Auf eine dieser Fragestellungen möchte dieses Heft Auskunft geben: Es handelt sich um das im Konzept der Individuation stets mitgedachte Element der Zeitlichkeit, in dem sich der Horizont unserer Lebenszeit aufspannt. Abgesehen von der Tatsache, dass sich ein solcher Horizont nur im Licht nachträglich mit Bedeutung versehenen Erlebens auftut, nicht jedoch durch das Faktum spontan erlebter Zeit, wird unser Erleben vom Bewusstsein unserer Endlichkeit geprägt. Selbst wenn also Individuation, wie Jung schreibt, ein »naturhaft im Menschen angelegter Prozess« ist, bedarf es einer gewissen Aktivität des Einzelnen, um diesen Prozess wahrzunehmen und in Gang zu halten.
In Ingrid Riedels Trauminterpretation, nämlich einem dem Traum entnommenen Appell an sie, »etwas Kostbares aufgeben und sich neu ausrichten zu müssen«, zeigt sich diese spezifische Aktivität: Sie sei hier als Bewegung der Abschiedlichkeit benannt, durch die die Thematik der Endlichkeit ins Blickfeld rückt. Diese Bewegung, die einer Abwendung von der Welt gleichkommt und in Riedels Interpretation als das, was war, nämlich Vergangenheit, markiert ist, ist verknüpft mit einer erneuten Bewegung zur Welt hin, einer Zuwendung zur Welt, repräsentiert durch eine Ausrichtung auf Zukünftiges. Diese ließe sich als Fähigkeit zum Neubeginn bezeichnen. Diese beiden ineinander verschränkten Bewegungen bilden gewissermaßen die temporale Modalstruktur des Individuationsprozesses und halten ihn in Gang.
Eine wichtige Frage drängt sich hierbei auf: Speist sich unser Verständnis des Individuationsprozesses aus der Idee des vitalen Lebens oder aus der Idee des Lebens des Geistes? Das vitale Leben ist – um an Georg Simmels griffige, aber tiefsinnige Formel zu erinnern – ein »Mehr-Leben«, das Leben des Geistes ein »Mehr-als-Leben«. Das vitale Leben wählt im Akt seiner Selbsttranszendierung die Richtung hin zu mehr Lebendigkeit. Der Fürsprecher einer vital gedachten Lebens­transzendenz ist – wir ahnen es – Friedrich Nietzsche. Sie kann als vorherrschende Position in unserem postmetaphysischen Zeitalter gelten. Das Leben des Geistes hingegen »übersteigt sich in dem strengen Sinne, dass es sich über sich selbst als Leben auf das Andere des Lebens hin bewegt«. Dieser Gedankengang findet sich in der Philosophie des 20. Jahrhunderts v. a. in den Schriften der Existentialisten. (Bzw. findet sich – wenn auch unter anderen philosophischen Vorzeichen – in den Werken klassischer Metaphysiker.) Als Gewährsmann sei Jean-Paul Sartre zitiert, der die sich transzendierende Lebensbewegung in die wuchtige Pathosformel des »Sich-Losreißens von sich selbst« kleidete.
Auch Jung sieht im Leben eine Bewegung auf das Andere des Lebens, wenn er sagt:
Ich bin als Arzt überzeugt, daß es sozusagen hygienischer ist, im Tode ein Ziel zu erblicken, nach dem gestrebt werden sollte, und daß das Sträuben dagegen etwas Ungesundes und Abnormes ist, denn es beraubt die zweite Lebenshälfte ihres Zieles.
Denoch lassen sich Jung keineswegs eindeutig thanatophile Tendenzen bescheinigen – im Gegensatz zu Freud. Vielmehr eröffnet sein Konzept des Individuationsprozesses einen weiten Raum für Verwirklichungsmöglichkeiten unausgeschöpfter Lebenspotentiale.
(Ganz anders hingegen Wolfgang Giegerich, dessen Werk ihn – jenseits der Traditionslinie der Phänomenologen oder der Existentialisten – in seiner strikten Unterscheidung von Leben und Psyche zugunsten letzterer als treuen Nachlassverwalter eines reichen metaphysischen Erbes auszeichnet.)
Wir sehen – je mehr man sich in die geistes- und philosophiegeschichtlichen Hintergründe zu diesem Thema vertieft, desto komplexer werden die sich daraus ergebenden Fragestellungen, desto widersprüchlicher auch die Antworten.
Roman Lesmeisters Text Ist »Zukunft« ein psychoanalytisches Konzept? Gedanken zur Zeitlichkeit in der Psychoanalyse (S. 256) führt uns in die Komplexität der eben nur angedeuteten Zusammenhänge innerhalb des psychoanalytischen Diskurses ein, indem er zunächst eingehend den thanatophilen Grundzug des Freud’schen Denkens und mancher seiner Nachfolger beleuchtet, wo Abschied und die Zeitlosigkeit des Unbewussten überwiegen, wodurch sich eine überraschende Nähe zu antik-metaphysischem Denken zeigt. Im Gegenzug zu Freud ist für Lacan die Zukunft die primäre Zeitform des Unbewussten, genauer die »vollendete Zukunft« im grammatikalischen Gewand des Futur II. Doch auch über ihr liegt »der Schatten der … Abschiedlichkeit«. Ist ein Zukunftsbegriff jenseits des Abschiedlichen psychoanalytisch denkbar? Im Licht dieser Frage untersucht Lesmeister Jungs zukunftorientiertes Konzept der Finalität, und er tut dies in einer neuen Lesart: Er liest Jung mit Bollas. »Bollas spricht von einem destiny drive, also einem triebhaften Streben nach Verwirklichung des individuellen Formates oder »Idioms«, was erstaunliche Parallelen zu Jungs Individuationskonzept aufweist.

Ralf Vogel präsentiert in seinem Beitrag »Mit dem Leben sterben wollen«. Zur Empirie des Individuationsprozesses in Todesnähe (S. 272) Studienergebnisse der thanatopsychologischen Forschung, in denen der Autor eine erste empirische Fundierung des Individuationsprozesses sieht. Erstaunlich sind jene empirischen Beobachtungen, die den Sterbeprozess als »forciertes« und »zeitkomprimiertes Individuationsgeschehen« kennzeichnen.
Man müsse, so Vogel, Jungs Satz »Mit dem Leben sterben wollen« rückwärts lesen, nämlich als »Mit dem Sterben (nochmals) leben wollen, also sich den Lebensaufgaben der Individuation noch einmal, ein letztes Mal, gegenüber sehen«. Auch hier klingt die bereits erwähnte Verschränkung der temporalen Modalstruktur an, die den Individuationsprozess kennzeichnet: Abschieds- und Aufbruchgeschehen reichen sich die Hand.
Zurück zu dem bereits angesprochenen Artikel von Ingrid Riedel Mein Ort im Raum der Jung’schen Psychologie: In ihrem Text zeigt sich im Laufe vieler Lebensjahre eine immer deutlicher werdende Erweiterung des Blickfeldes, die wie konzentrischer Kreise um einen Zugang zum Leben kreisen, in dem Symbol und transzendente Funktion die wesentlichsten Elemente bei der Entstehung von Bedeutung sind.
Die gesellschaftliche Relevanz des Jung’schen Denkens spürt Riedel in archetypischen Manifestationen, z. B. in Träumen auf, die sie als Ausdruck einer erwachenden kollektiven Kultursensibilisierung wahrnimmt, als hoffnungsvolle Anzeichen eines Wandels.

Elisabeth Grözingers Interview (S. 405) präsentiert mit Verena Kast eine Analytikerin, die sich mit großer Dynamik und Leidenschaft der Verbreitung und Bewahrung des Jung’schen Denkens widmet. Kast berichtet von ständig sich aufs Neue bietenden Diskussionsflächen in politischer oder gesellschaftlicher Hinsicht. Das Kreative und Zweckfreie, die ungeheure Modernität des Jung’schen Denkens schließlich sind es, denen Kasts »Herzblut« gilt.

Mit Ernst Bahner bewegen wir uns weg vom Individuationsgeschehen des Einzelnen: In seinem Beitrag Psychoanalyse und Zeitgeschehen (S. 288) wirft er einen kritischen Blick von außen auf gegenwärtige Lebensformen, indem er — unter ­Berücksichtigung moderner Analysen aus philosophischer, soziologischer und ­politologischer Perspektive die gesellschaftlichen Lebens- und insbesondere ­Reproduktionsformen in modernen Gesellschaften ins Visier nimmt.

Sue Austin, von deren in zwei Teile angelegter klinischer Studie zur Scham wir nun den zweiten Text unter dem Titel Zur Arbeit mit chronischen und unerbittlichen Formen von Selbsthass, Selbstverletzung und existentieller Scham (Teil 2) (S. 338) veröffentlichen, korrespondiert in gelungener Weise mit Bahners Aufforderung, ­gesellschaftliche Rahmenbedingungen und deren Wandlungen als wesentliches Element in der analytischen Arbeit mitzubedenken, indem sie über das Scham­erleben ihrer Patientin nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der subjektiven Verfasstheit in der Moderne nachdenkt. In diesem Zusammenhang spricht sie von »einem Riss im Subjekt« und zieht Arbeiten von B. Kilborne heran.

Besonders aufmerksam machen möchte ich in unserem Diskussionsforum auf eine Debatte, die man als »überfällig«, gemessen an ihrem Aktualitätsgehalt, bezeichnen kann. Es handelt sich um einen Offenen Brief zum Thema »Jungs Schriften und Theorien über ›Afrikaner‹« (S. 311), verfasst von einer internationalen Gruppe Jungianischer Kolleginnen und Kollegen, der im November 2018 im British Journal of Psychotherapy erschien und zu dem Andrew Samuels ebenfalls dort veröffentlichte erklärende Anmerkungen verfasst hat. Der Text wurde uns von Gottfried Heuer, ­einem englischen Kollegen, zugesandt, der ihn auch übersetzt hat. Michael Péus hat hierzu einen einführenden Beitrag verfasst.

Im Kontext politischer Dringlichkeit und eines verdienstvollen Umgangs mit dieser möchte ich auf den Text von Stephan und Marie-Luise Alder hinweisen: Gruppenanalytische und interaktionsanalytische Perspektiven auf Großgruppenprozesse während der psychohistorischen Trialog-Konferenzen 2015 und 2017 (S. 382). ­Hinter diesem Titel verbirgt sich eine reflektierte Darstellung zweier Konferenzen, abgehalten von ukrainischen, russischen und deutschen Kolleginnen und Kollegen, die angesichts der historischen sowie gegenwärtigen politischen Spannungen ein »Gefäß« der besonderen Art darstellten.
Im Diskussionsforum, das in dieser Ausgabe besonders reichhaltig ausfällt und Sie zu Entgegnungen und Beiträgen einladen möchte, finden Sie überdies zwei weitere Beiträge: Zunächst Martin Rosers Gedanken zur Fehlerkultur in der psychoanalytischen Theorie und Praxis (S. 433) sowie eine Kontroverse zur Positionierung Jungs und Wilbers (S. 444), die von Lutz Müller und David Stötzner ausgetragen wird.
Hinweisen möchte ich außerdem auf weitere sehr lesenswerte Beiträge, die Sie in diesem Heft finden: Thomas Hellinger, selbst bildender Künstler, berichtet im Spielraum anschaulich und detailliert über die Entstehung eines Bildes. Sein Beitrag trägt den Titel: Innere Bilder äußern. Bildprozesse aus künstlerischer Sicht (S. 329).
Von Isabelle Meier finden Sie in dieser Ausgabe zwei Texte, die ganz unterschiedlichen Textsorten angehören. Es handelt sich beim einen um ein Denkbild, das eine Alltagserfahrung zum Ausgangspunkt nimmt und den vielversprechenden Titel trägt: Darth Vader im Rückspiegel (S. 324). Der zweite Text ist ein Vergleich zwischen Komplextherapie und den Schemata der Schematherapie, der Titel ihres Textes lautet: Über unerfüllte Bedürfnisse und gefühlsbetonte Komplexe (S. 364).
Hinweisen möchte ich ebenso auf auf Volker Münchs Filmbesprechung Game of Thrones.
Schließlich widmet sich das Heft den Personalia, zu denen wir hier eine Laudatio von Gustav Bovensiepen anlässlich des 70. Geburtstags von Roman Lesmeister veröffentlichen. (S. 464)
Wir haben auch den Tod zweier verdienstvoller Kollegen zu beklagen: Günter­ ­Langwieler und Wolfram Keller, zu denen Sie in diesem Heft Nachrufe finden (S.  470). Seinen Abschluss findet das Heft, wie gewohnt, mit Buchbesprechungen.
Nicht versäumen möchte ich schließlich, Sie darauf hinzuweisen, dass unsere Zeitschrift seit Kurzem über eine eigene Website verfügt. Unter der Adresse
www.analytische-psychologie-blog.com finden Sie aktuelle Informationen zu jüngst ­erschienenen Heften und können im umfangreichen Gesamtregister stöbern.

Angelica Löwe, Wien