Editorial Heft 193 (1/2020)

»Hoffnung ist, wie die Angst, immer mit erheblicher Ohnmacht verbunden«, schreibt die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum in ihrem Buch Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise (Nussbaum, 2019, S. 237). Sie schreibt auch, die Hoffnung sei das Gegenteil von Angst (vgl. a. a. O., S. 246), und führt aus: »Die Hoffnung dehnt sich aus und schreitet nach vorn, die Angst schreckt zurück. Hoffnung ist verletzlich. Angst schützt sich selbst« (a. a. O.). Nussbaum unterscheidet zwischen »untätiger Hoffnung« und »praktischer Hoffnung«, worunter sie eine Hoffnung versteht, »die mit dem Handeln fest verbunden ist und der Verpflichtung zum Handeln Kraft verleiht« (a. a. O., S. 241). Auch das konkretisiert sie: »Ich will sagen, dass Hoffnung für das energische Verfolgen eines schwer zu erreichenden Ziels von entscheidender Bedeutung ist« (a. a. O., S. 245).
»Ein schwer zu erreichendes Ziel« – das scheint mir gegenwärtig ein individueller, kollektiver und globaler Zustand jenseits eines »Königreichs der Angst« (Nussbaum) zu sein. Auf dem Weg zu diesem Ziel brauchen wir jene Hoffnung, die Energie freisetzt. Das ist nicht allein eine Energie, die zum Aufbruch motiviert. Dazu gehört auch die Energie, die den Mut zur Diagnose auslöst. Nötig ist die sorgfältige Untersuchung der Facetten der Verunsicherungen, die in Krisen oder an Grenzen entstehen. Eine solche Untersuchung und ihre Resultate können erschütternd nicht nur für die unmittelbar Betroffenen sein, sondern auch für die Untersuchenden und für diejenigen, die deren Befunde lesen.
Dieses Heft über »Krisenzeiten und Grenzerfahrungen« ist Ausdruck einer Hoffnung auf ein »schwer zu erreichendes Ziel«, das eben wegen seiner proble­matischen Erreichbarkeit nur mit immenser Energie angegangen werden kann. Engagement, ja Selbstverpflichtung haben sicher die Autorinnen und Autoren gebraucht, die in diesem Heft ihre Erfahrungen in Extremsituationen präsentieren und reflektieren, aber auch wir Lesenden. Wo wir uns aber bewusst halten, dass unsere Auseinandersetzungen mit verstörenden Grenzerfahrungen erste und wesentliche Schritte auf dem Weg jenseits des »Königreichs der Angst« sein könnten, da können wir unsere Anstrengungen auch als Ausdruck einer »praktischen Hoffnung« verstehen. Wir widmen uns den Krisen und Grenzerfahrungen schließlich nicht, um sie zu perpetuieren, sondern um unsere »Verpflichtung zum Handeln zu kräftigen« (Nussbaum).

Annette Simon stellt uns in ihrem Beitrag Deutsche Identitäten 30 Jahre nach dem Mauerfall anhand eines Traumes und ihrer persönlichen Erfahrungen die Konflikte vor Augen, die Menschen mit Wurzeln in der DDR nach dem Mauerfall und der Konfrontation mit der Alltagskultur Westdeutschlands erlitten. Sie berichtet von der Scham ostdeutscher Menschen und konstatiert: »Diese […] oft unbewusste und verdrängte Scham aus der DDR-Zeit […] wird jetzt in vielfältiger Weise ans Licht gezerrt. Und im grellen Licht der Öffentlichkeit und der Westscheinwerfer wird sie zu einer Beschämung und Entwertung, die man als Ostanalysandin bei einem Westanalytiker bewusst oder unbewusst fast voraussetzt oder auch befürchtet«. Simon schließt ihre Gedanken zu identitätsprägenden ostdeutschen Erfahrungen nicht anklagend, sondern mit der Einladung, die Karten neu zu mischen, »damit auch neue innere Bilder wachsen können«.

In Uwe Langendorfs Aufsatz Acheronta movebo geht es einerseits um die kritische Rezeption tiefenpsychologischer Konzepte zur »analytischen Haltung«, andererseits um deren Neubestimmung. Als Grenzerfahrung skizziert Langendorf die Analyse einer Frau, die er bis kurz vor ihrem Tod begleitete. Langendorf diskutiert die Möglichkeit eines latent bereit liegenden psychophysischen Musters für den Sterbeprozess, das letztlich zu der Forderung führen müsste, »dass Analytiker sich dieses letalen Faktors in ihrer eigenen Psyche bewusst werden und ihre unvermeidliche Abwehr erkennen müssten«. Das Bewusstsein von Tod und Todesangst sowie deren Abwehr bringt Langendorf zur Bestimmung der analytischen Haltung als »Anerkennung von Transzendenz als ›Hineingehaltensein in das Nichts‹«. Aufgrund der damit generell verbundenen Ungeschütztheit der analytischen Haltung plädiert er zuletzt dafür, gerade von jenen Analytikern zu lernen, die in Grenzsitua­tionen mit Abstinenzverletzungen in ihrer analytischen Haltung scheiterten.

Angelica Löwe stellt Das traumatisierbare Subjekt in den Mittelpunkt ihrer Gedanken zum Individuationsparadigma im Werk von Doris Lessing und Imre Kertész – so Titel und Untertitel ihres Artikels. Ausgehend von der gegenwärtigen politischen Polarisierung und deren Folgen für die individuelle Identitätsbildung weist sie zunächst auf die tiefste Dimension des Jung’schen Individuationskonzepts hin: auf die Teilhabe an der Welt. Diesen vielleicht höchsten Grad von Individuation macht Löwe sowohl bei Lessing als auch bei Kertész aus. Während Lessings Biographie von Fragmentierung, aber auch von Dünnhäutigkeit und produktivem Verstummen geprägt ist, begreift Kertész sein Leben als zufälliges Überleben nach Auschwitz, gezeichnet ebenfalls von »Stummheit«, »begnadet« allerdings auch mit »Momenten der Hellsicht« (Kertész) und der Befähigung zu existenziellem Schreiben. Gemeinsam scheint nach Löwe den Prozessen beider Autoren, dass das Selbst als eigenständiges Dialogprinzip die Richtung und den Inhalt des Schreibens vorgibt. Zuletzt skizziert Löwe Rudolf Bernets Konzept des »traumatisierbaren Subjekts« und beschreibt in Anlehnung an Bernet das Jung’sche Individuationskonzept als eines, in dem ein asymmetrisches Dialogprinzip den Dialog zwischen Ich und Selbst strukturiert. Diese Perspektive ermöglicht es Löwe, für die aktuelle psychotherapeutische Praxis neu zu sensibilisieren – als Raum, »in dem es dem ›in seiner Partikularität stumme[n] Individuum möglich werden kann, hervorzutreten‹« (Löwe).
Von aufstörenden Grenzerfahrungen berichtet Henry Abramovitch, der über den Unterschied zwischen fundamentalistischer und terroristischer Gewalt nachdenkt. Ausgangspunkt sind dabei Erfahrungen eigener Todesnähe aufgrund von Attentaten. Zu dieser Grenzerfahrung, die er einmal auch gemeinsam mit einem Klienten machte, schreibt er: »In diesem Augenblick waren wir nicht mehr der Analytiker und der Analysand, sondern Opfer einer sogenannten ›Participation mystique‹, einer mystische Teilhabe oder seelischen Verbundenheit der Hilflosigkeit, die die Grenzen zwischen uns aufzulösen schien« Abramovitch unterscheidet zwischen Fundamentalismus und (Selbstmord-)Terrorismus. Letzteren sieht er durch das »unbewusste Bedürfnis der Täter motiviert, mit ihren Opfern zu verschmelzen«. Unter Berücksichtigung religiöser bzw. religionswissenschaftlicher Quellen und von Träumen kommt er zu dem Schluss: »Selbstmordattentäter blicken zwangsläufig auf ihre Opfer und werden auch umgekehrt von ihnen angesehen. Dieser Blick trägt […] eine Intimität in sich, die auch dem Blick der Medusa innewohnt«.

In dem Artikel Selbstlos töten im Namen des Einen. Mystik und die Ausrottung des Bösen in der Welt reflektiert Reiner Manstetten Formen von Mystik, die zu einem vertieften und respektvollen Verständnis menschlicher Personalität generell führen, sowie andere mystische Konzeptionen, in denen die als fremd Wahrgenommenen nur als vernichtungswürdige Feinde begriffen werden. Anhand von Beispielen aus der christlichen, islamischen und der zen-buddhistischen Mystiktradition zeigt er die Ambivalenz, die signifikant zum Umgang mit mystischen Erfahrungen gehört. Manstetten folgert aus seinen Beobachtungen, dass es »nicht die mystische Erfahrung, sondern […] die konkrete Religiosität, Geistigkeit und Humanität [ist], mit der sie sich verbindet, die darüber entscheidet, ob Mystik den Menschen menschlicher macht oder ob sie das im Menschen angelegte Potenzial zur Unmenschlichkeit noch verstärkt«.

Die Beiträge von Susanna Wright, Blaubart die Stirn bieten. Totalitäre Regime in der Kindheit und der kollektiven Psyche, und von Vldadimir Tsivinsky, Niemand kommt hier lebend heraus: Das Märchen von Blaubart in Therapie und Kultur, beleuchten sowohl die gegenwärtige kollektiv-kulturelle als auch die individuelle Bedeutung von Grimms Märchen Blaubart. Beide beziehen sich auch auf die Theorien von Donald Kalsched, um die Geschichten der von ihnen beschriebenen Klientinnen verständlich zu machen. Für die Klientinnen – beide traumatisiert – werden jedoch die gegensätzlichen Positionen des Märchens (tabubrechende Protagonistin versus mörderischer Täter) während des therapeutischen Prozesses zentral, was natürlich – wie gezeigt wird – Folgen für den Ausgang der Therapien hat.

Eine andere spannende Fallstudie präsentiert Monika Rafalski mit ihrem Beitrag ­Krisen und Grenzerfahrungen im Prozess der Integration verletzter Grundfunktionen. Rafalski zeigt in klassisch jungianischer Perspektive, wie eine Patientin, die mit ihrer Denkfunktion identifiziert war, im interpersonellen Feld der therapeutischen Dyade einen neuen Zugang zu ihrer inferioren Funktion, zum Fühlen, gewinnen konnte und eine neue Selbstbejahung erlebte.

In unserer Reihe Jungianische Identitäten zeigt Paul Brutsche unter dem Titel Über Jungs Grundlanliegen, wie sie in seinen Lebenserinnerungen, in Träumen und im »Turm« zum Ausdruck kommen sein eigenes jungianisches Profil, indem er z. B. tiefenpsychologisch eher ungewöhnliche »Objekte« – etwa den Turm von Bollingen – als Ausdruck von Jungs Möglichkeit deutet, die »spezifische Wirklichkeit des Schöpferischen« (Brutsche) zu gestalten.

Die Beiträge von Roman Lesmeister (Die Leerheit kapitalistischer Weltbemäch­tigung: Butcher’s Crossing von John Williams) und Stefan Wolf (Im Echoraum), stehen beide in der Tradition tiefenpsychologischer Zeit- und Gesellschaftskritik.
Lesmeister führt in die Wandlungsgeschichte von Will Andrews, dem Protagonisten in Williams’ Roman, ein, der 1873 in den USA zur Büffeljagd aufbricht. Er zeigt den Roman (2015 auf Deutsch erschienen, in den USA erstmals bereits 1960 publiziert) als »Parabel vom Scheitern moderner Bemächtigungs- und Selbst­befreiungsstrategien und dem Sichtbarwerden eines ›Lochs‹« hinter diesen Rettungsversuchen.
Wolf arbeitet die aktuelle Bedeutung des Mythos von Echo und Narziss anhand eines Gemäldes von John W. Waterhouse heraus. Er verdeutlicht, dass im Zeitalter der digitalisierten Kommunikation die neu gewonnenen Möglichkeiten »virtueller Selbstimagination« an die Stelle des Gesprächs und wirklicher Begegnung mit dem Anderen treten.

Es bleibt noch auf das Diskussionsforum mit Beiträgen von Ralf Vogel, Regina Renn und Annette Bertold-Brecht zur Zukunft der DGAP hinzuweisen sowie auf Lutz Müllers interessante Thesen zur Archetypentheorie. Nicht zuletzt sind drei aktuelle Berichte zu erwähnen: zur Eröffnung des Jung-Museums in Küsnacht (Zürich) von Susanne Eggenberger, Sandra Hügli und Eva Middendorp, ein Werkstattbericht von der DGAP-Frühjahrstagung 2019 von Antje Feistel und der Tagungsbericht vom 7. Forschungstag von Infap3 2019 in Wien von Gerhard Burda, Isabelle Meier und Elisabeth Schörry-Volk.

Aus der Redaktion ist zu berichten, dass Konstantin Rößler und Elisabeth Schörry-­Volk nach langjähriger Arbeit aus unserem Kollegium ausgeschieden sind. Wir danken ihnen herzlich für ihre wertvolle kreative Mitarbeit. Wir freuen uns, dass wir Sylvia Runkel als neue Redakteurin gewinnen konnten und heißen sie hiermit herzlich willkommen.

Zum Abschluss möchten wir allen danken, die mit ihren Beiträgen und ihrem ­Engagement dieses Heft ermöglicht haben. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre der Beiträge dieses Hefts über Krisenzeiten – Grenzerfahrungen. Wir hoffen, dass Sie dadurch ein (noch) genaueres, nämlich ein tiefenpsychologisch geschärftes Bild von den Extremsituationen unserer Gegenwart entwickeln können.

Elisabeth Grözinger, Basel

Literatur

Nussbaum, M. (2019). Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.