Editorial Heft 195 (1/2021)

Das Böse und seine Faszination erleben, es durchleben und ihm widerstehen war das Thema unserer Frühjahrstagung 2020. Als die Vorbereitungsgruppe zu Beginn des Jahres 2019 das Thema wählte, ahnte sie noch nicht, wie sich die Zeitläufe entwickeln sollten. Im Laufe des Jahres schien es, als hätte die DGAP das Thema am Puls der Zeit gefühlt. Im Herbst des Jahres titelte die ZEIT ihre Ausgabe vom erste November 2019 »Die Faszination des Bösen«, illustriert mit dem Bild des »Joker« aus dem gleichnamigen, in seiner Intensität verstörenden Kinofilm von Todd Phillips, der ebenfalls im Herbst in die Kinos gekommen war.
An einem Tagungsmorgen eilte ich auf dem Weg zu meiner Diskussionsgruppe im Seitenflügel des Erdgeschosses vorbei am Innenhof des Veranstaltungsortes. Es war ein kühler, nasser Morgen Anfang März, noch lag der Hof in winterlichem Grau. Im stillen Geviert entpackte eine kleine, asiatisch aussehende Frau die Rosenstöcke aus ihrem Winterschutz. Diese stille Geste rief in mir im Vorbeigehen eine lange zurückliegende Reise nach Kyoto wach, Bilder von der friedlichen Pflegearbeit der Gärtner, wie sie in den Tempelanlagen in den Bäumen sitzend diese von Hand und mit kleinen Scheren beschnitten. Im Hintergrund wachgerufen waren diese Eindrücke friedlicher Schönheit – Bildergesten nach Hiroshima.
Als ich mir im August des gleichen Jahres die ersten Gedanken für dieses Editorial machte, jährte sich Hiroshima zum 75. Mal. Nur zwei Tage zuvor hatte sich in Beirut eine schreckliche Explosion ereignet, weil Ammoniumnitrat unter unsäglich fahrlässigen ­Bedingungen gelagert worden war. Ein Brandpilz stieg über der Stadt auf, der beklemmend an den Atompilz nach dem Abwurf der Bombe über Hiroshima erinnerte, abgeworfen, nachdem Japan längst zum Einlenken gezwungen worden war und sich das Ende des Krieges abzeichnete. Auch wird das Jahr 2020 einst als eines der ­Klimakatastrophen und der SARS-CoV-2-Pandemie erinnert werden. Spuren des Bösen – und wo ist Gott?
C. G. Jung sah es als Aufgabe des heutigen Menschen, das Gottesbild zu erneuern. Möge dieses Heft Sie dazu anregen. Thematisieren wir Jungs Gottesbild und zugleich das Böse, so konfrontieren wir uns mit mächtigen, emotionalen, ent-grenzenden, zerstörerischen, aber auch potenziell schöpferischen Energien. Das hat C. G. Jung wohl gemeint, wenn er sagte: »Leben ist Sinn und Unsinn […]. Ich habe die ängstliche Hoffnung, der Sinn werde überwiegen und die Schlacht gewinnen« (zit. n. Jaffé, 1971, S. 360).
Faszination kann an den Rändern eines Gehaltenseins in ekstatisches Erleben ausfransen. Erliegt das erlebensfähige, reflektierende Ich der Faszination, kapituliert das Denken.
Das erleben wir heute auf unseren Straßen, wenn Menschen in einer Situa­tion kollektiver Unsicherheit Verschwörungstheoretikern hinterherlaufen wie einst dem Rattenfänger. Komplexität reduzierende krude Narrative von bösen Mächten locken und verfangen.

»Ein freier Mann kennt nur freie Götter und Teufel, die aus sich selber bestehen und aus eigener Kraft wirken« (Jung, 2009, S. 305). Dass diese Sicht selbst verführerisch sein kann, dass C. G. Jung einer Faszination für die archetypische Idee mitunter erlag, darauf weist Christian Roesler in seinem Text hin. C. G. Jungs Inter­esse für mythische und symbolische Bilder und Erzählungen hätten ihn den Anderen aus dem Blick verlieren, für seine Interessen geradezu einspannen lassen. So habe C. G. Jung in seinen Therapiestunden den intersubjektiven Standpunkt und die szenische Beziehungsgestalt vernachlässigt. Daher fehle in der Analytischen Psychologie bis heute ein notwendiges, klares Konzept von Beziehung. C. Roesler fordert uns zu einer »grundlegend skeptischen Haltung« gegenüber C. G. Jung und insbesondere seiner Theorie heraus und drängt, Theorie immer wieder aufs Neue mit dem Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis in Verbindung zu bringen, um so einer theoretischen Isolierung entgegenzuwirken.

Der Vorwurf des Antisemitismus gegenüber C. G. Jung, bei C. Roesler nur gestreift, wird von der Germanistin Simonetta Sanna in ihrer textanalytischen Arbeit »Jung und der Antisemitismus« kenntnisreich thematisiert. Sich auf seine späten Schriften und sein »Eingeständnis der eigenen verfehlten Faszination« beziehend, verneint sie einen Antisemitismus C. G. Jungs. Sie verortet ihn vielmehr in einer persönlichen Krise nach der Trennung von S. Freud und in seiner anhaltenden Faszination für das archetypisch Symbolische. Mit folgenden Worten von zeitlos aktuellem Bezug beschließt die Autorin ihre Arbeit:
[…] wie im Falle seiner eigenen Lingering Shadow, denen sich Jung in »Nach der Katastrophe« gestellt hat, ist der Feind, also das Prinzip Feindschaft, das künftige Katastrophen auszulösen vermag, noch immer auf dem Wege einer Auseinandersetzung mit dem Fremden im Nächsten auszumachen: im eigenen innersten Innern […] in dem die Erfahrung des Anderen, des Anderslebenden und Andersdenkenden, zur Erfahrung des eigenen, widersprüchlichen Selbst werden kann.
Einen frischen Blick auf das Rote Buch wirft der in Glasgow lehrende Literaturwissenschaftler Paul Bishop: »Teufelszeug? Über den Umgang mit der Faszination des Bösen in Jungs Rotem Buch«. Den Beitrag lesend, folgen wir C. G. Jungs stetem Bemühen, dem Unbewussten Bedeutung abzuringen. Gerade indem er die Gestaltungen des Unbewussten wirklich werden ließ, die Teufel erlebte und sich mit ihnen konfrontierte, gelang es ihm, ein Widerstehen psychologisch zu formulieren: »[…] wer das Böse nicht will, dem fehlt die Möglichkeit, seine Seele von der Hölle zu erretten« (Jung, 2009, S. 288). Mit einer uns vertrauten Kontinuität verfolgt P. Bishop seit Jahren C. G. Jungs im Roten Buch dokumentiertes Ringen um Bewusstwerdung, und wie diesem gelingt auch ihm ein »in-Szene-Setzen […] der Ideen«.

Mit dem Text von Andreas Klein, »Ein abtrünniger Jünger Zarathustras? Der Tod Gottes und das Rote Buch Carl Gustav Jungs«, schließt sich eine weitere, das Rote Buch in einen historisch-geisteswissenschaftlichen Kontext stellende Betrachtung an. C. G. Jung sei gerade in seinen Krisenjahren nach der Abkehr von S. Freud von Nietzsches Zarathustra nachhaltig beeindruckt und beeinflusst gewesen. C. G. Jung hielt Nietzsches Ausrufung vom Tod Gottes seine im Roten Buch sich formulierende Idee von der Notwendigkeit der Erneuerung des Gottesbildes entgegen. So habe er wiederum Nietzsches Credo befolgt: »Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur Schüler bleibt.«

Verorte ich die »Bösartigkeit […] im Ich«, wie es Roman Lesmeister (im Unterschied zu C. G. Jung) tut, so stellt sich die ethische Frage nach den potenziell schöpferischen oder destruktiven Entwicklungsmöglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnisse, zu denen das Ich zu gelangen vermag. Jüngst wurde der Nobelpreis für Chemie für die Entwicklung der CRISPR/Cas-Genschere verliehen. In ihre Anwendung werden große Hoffnungen, beispielsweise im Kampf gegen bisher kaum heilbare Krankheiten, gesetzt. Ihr gefährliches, genmanipulatives ­Potenzial ist ethisch hingegen keineswegs ausgelotet. B. Labatut erinnert an die »Warnung vor dem blinden Fortschritt in der Wissenschaft, der gefährlichsten aller menschlichen Künste« (Labatut, 2020, S. 20).

Anfang des 20. Jahrhnderts gelang dem Chemiker Fritz Haber die Gewinnung von atmosphärischem Stickstoff aus der Luft. Nun konnte aus Stickstoff und Wasserstoff Ammoniumnitrat als Grundlage für Dünger industriell hergestellt werden, was die Ernährung von Millionen Menschen sicherstellen sollte. Seine Entdeckung, für die
F. Haber 1918 den Nobelpreis erhielt, diente dem kriegführenden Deutschen Reich zugleich dazu, Stickstoff für die Herstellung von Sprengstoff zu gewinnen. So zog sich der Krieg hin. Ammoniumnitrat in Beirut gelagert – zur Herstellung von Dünger oder von Sprengstoff?

Kann »das Böse« integriert werden? Und »was bedeutet ›Integration des Bösen‹?« fragt Roman Lesmeister. In einer früheren Arbeit von ihm lesen wir: ­»Konstruktiv bewältigen, dies bedeutet nicht nur, die destruktiven Kräfte der Psyche ins Bewusstsein zu heben und zu integrieren, sondern, was man nicht vergessen darf, die Liebe im Durchschnitt etwas stärker sein zu lassen als den Hass«
(Lesmeister, 1999, S. 288). In der vorliegenden Arbeit nimmt er seine Gedanken wieder auf und versucht sich an »einem schwierigen Konzept«. Dass C. G. Jung die Triebebene S. Freuds zugunsten der archetypischen Idee verlassen habe, habe zu einem theoretisch nachwirkenden konzeptuellen Mangel geführt.
Lesmeister bezieht die Triebebene wieder ein, um »das Verhältnis von Gut und Böse als Verhältnis von Liebe und Selbsterhaltung zu reformulieren« und so eine Grundlage für »eine Art gebrauchsfähiger Ethik« des Ich im Umgang mit dem ­Bösen zu bilden.

Die Liebe setzt Navid Kermani in den Mittelpunkt seines auf dem IAAP-Kongress gehaltenen Eröffnungsvortrags »Vergottung der Seele? Von Ibn Arabi zu C. G. Jung«. »Mystische Erkenntnis hingegen folgt nicht den Gesetzen der Logik, sondern der Liebe«, heißt es dort. Folgen wir N. Kermani auf seiner Wanderung »entlang den Gräben« der Religionen zwischen Orient und Okzident, so gelangen wir zu einem Gottesbild, in dessen Mystik die Gegensätze von Geist und ­Materie/Sexualität, Männlich-Weiblich, Christentum, Judentum und Islam, Religion und Wissenschaft aufgehoben sind. »Gott als das Abstrakte, Allumfassende, Einzige, wird nur in der Konkretion, Besonderheit und damit Verschiedenheit erfahrbar und beschreibbar – Gott, Mensch und ihre Vereinigung«.

Beispielhaft und von seltener Kraft gibt uns Bernd Niles anhand einer über Jahrzehnte sich entwickelnden Traumserie Einblick in einen solchen Individuationsprozess einer spirituellen Entwicklung, die fernöstliche und christlich-mystische Elemente miteinander vereint, und der Kristallisation eines Gottesbildes.

Aus dem Archiv der Analytischen Psychologie liegt in der vorliegenden Ausgabe nun der zweite Teil der Arbeit »Abandoning the Child« von James Hillman in deutscher Übersetzung und versehen mit einem Kommentar von Constanze Krauß und Dieter Treu vor.

In den Tierpark von Berlin nimmt uns Dieter Treu auf die Suche nach der Harpyie mit. Der große Raubvogel zieht in seinem natürlichen Habitat hoch über den Amazonaswäldern seine Kreise. Hier aber ist er, seiner Lebenswelt beraubt, in einer kleinen Volière gefangen. Der Blick des Autors fällt auf dieses gebrochene Wesen, und er fragt sich, was das über unser Verhältnis zur Natur und unseren Umgang mit ihr sagt. Er lässt den Leser an seinem Unbehagen über die konstituierende »Simulation« des Ausgestelltseins des Tieres teilhaben und die Verleugnung eigener existenzieller »Verlassenheit« spüren. Fantasievoll schlägt er einen Bogen zu zunehmender Digitalisierung.
Der Diskussionsbeitrag von Isabelle Meier widmet sich dem oft skeptisch aufgenommenen Thema der Manualisierung. Die Autorin weist aber darauf hin, dass man sich zuerst einigen muss, was ein Manual bedeutet, um nicht vorschnell in eine pauschale Widerstandsposition zu geraten. Auch verweist sie auf die psychoanalytische Literatur, die eindrückliche Beispiele von Manualen veröffentlicht hat, die viel stärker die therapeutische Beziehung statt der therapeutischen Behandlungspraxis in den Mittelpunkt rücken. Dann stellen sich in einem Workbook, wie die Autorin das Manual bezeichnet, andere Fragen als bei einem verhaltenstherapeutischen Manual.

Im Werkstattbericht fasst Antje Barber wesentliche Inhalte des gemeinsam mit unserem verstorbenen Kollegen Günter Langwieler 2018 am IFP Berlin gehaltenen Seminares »Mythos bei Neumann« und damit die Textarbeit zu dem bisher in deutscher Übersetzung noch nicht vorliegenden Werk E. Neumanns – Beiträge zur ­Tiefenpsychologie des jüdischen Menschen und zum Problem der Offenbarung – zusammen. Der zweite Teil des Berichtes folgt in Heft 196.

Aus der Redaktion ist zu berichten, dass wir nach langjähriger wertvoller Mitarbeit Elisabeth Grözinger mit herzlichem Dank verabschiedet haben und Inga Oberzaucher-Tölke aus Konstanz als neues Redaktionsmitglied begrüßen konnten.

Sylvia Runkel

Literatur

Jaffe, A. (1971). Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. Olten: Walter.
Jung, C.G. (2009). Das Rote Buch, hrsg. von Sonu Shamdasani. Ostfildern: Patmos.
Labatut, B. (2020). Das blinde Licht. Berlin: Suhrkamp.
Lesmeister, R. (1999). Zum Problem des Bösen in der postmodernen Realität. Analytische Psychologie. 30(4), 273–290.