Schiller und Jung Anmerkungen zu Hartmut Böhmes Beitrag: »Die psychologischen Typen bei Friedrich Schiller und C. G. Jung« (Heft 190)

Diskussionsforum: Beitrag von Volker Hansen

Wer sich Jungs Typologie zuwendet, wird bald zwei Aspekte unterscheiden: den statisch-diagnostischen Ordnungsaspekt und den dynamisch-therapeutischen Entwicklungsaspekt. Jung wendet sich zunächst dem ersten zu, um dann sein eigentliches Interesse dem zweiten zu widmen. Dabei hat er überwiegend nur die individuelle Ebene im Auge. Schiller geht in seinem Aufsatz Über die ästhetische Erziehung des Menschen sein Thema auf zwei Ebenen an: auf der gesellschaftlich-staatlichen und auf der individuellen. Er will Gefühl und Verstand versöhnen und nimmt dabei einen dynamischen Erziehungsaspekt ein. Daraus ergibt sich, dass Jung und Schiller nur teilweise eine gemeinsame Wegstrecke haben – aber immerhin.
Viele Jungianer interessieren sich zunächst recht wenig für Jungs Typologie. Oft war das nur ein ungeliebtes Pflichtkapitel in ihrer Examensarbeit. Das Einordnen und Festlegen ist unlebendig und wenig kreativ. Später, wenn die therapeutische Dimension in den Vordergrund tritt, wenn Wandlung ins Spiel kommt, kann die Typologie bei ihnen eine erneute Chance erhalten – und manchmal wird daraus dann eine Liebe auf den zweiten Blick.
Als wir seinerzeit den Literatur- und Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme zu uns in die C. G. Jung Gesellschaft Berlin einluden, hatten wir den Wunsch, Jungs überraschend umfangreiches Kapitel über Schillers Aufsatz einmal unter germanistisch-kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachten zu lassen und ein interdisziplinäres Gespräch auf den Weg zu bringen. Als Ergebnis liegt nun dieser ungewöhnlich anregende Artikel vor. Anregend, weil er neue Gesichtspunkte zur Typologie vermittelt und zugleich zur Diskussion herausfordert. Bevor ich auf die kritischen Nachfragen eingehe, die H. Böhme am Ende seines Beitrags formuliert, möchte ich zunächst einige Einsprüche und Ergänzungen zu seinen Gedanken vorbringen.
H. Böhme belegt in seinem Überblick über frühere Typologien, dass diese dazu dienten, die unübersichtliche Welt zu ordnen. Er stellt fest, dass dies zwar nicht Schillers Anliegen gewesen sei, wohl aber dasjenige Jungs. Er schreibt: »Die psychologische Typenlehre hingegen findet ihr Ziel in der heuristischen Ordnung von menschlichen Charakteren, die zu erkennen von praktischer Relevanz ist.«
Es ist eine Stärke von Böhmes Text, dass er Jungs Typologie kulturgeschichtlich einordnet, jedoch geht dabei deren »praktische Relevanz« – nämlich die therapeutische – und damit ihr Hauptanliegen unter. Ferner kommt er zu der Aussage, Jungs Typologie habe mit den Briefen Schillers »nahezu nichts zu tun«, und »dass Schiller für die Typologie Jungs dann (fast) keinerlei Bedeutung« habe. Schiller sei für Jung nur als »Vorläufer« oder »Anwendungsfall« für eine »Selbstversicherung« und »Selbstimmunisierung« interessant – im Sinne einer »projektiven Identifikation«. Böhme entdeckt in Jungs Schrift über Schiller keine wirkliche Begegnung. Wir wollen prüfen, ob man das auch anders sehen kann.
Einem statischen Verständnis seiner Systematik hat Jung selbst durch seine Wortwahl Vorschub geleistet, indem er Begriffe wie »Psychologische Typen« und »Typologie« wählte, statt für das Zusammenspiel von Orientierungsfunktionen einen dynamischen Ausdruck zu finden. Er wollte damit zunächst die Streitigkeiten unter seinen Kollegen, den psychoanalytischen Pionieren, besser verstehen und beabsichtigte, eine »kritische Psychologie« zu begründen. Den »Zweck«, Menschen in Kategorien einzuteilen, hielt Jung selbst für »an sich ziemlich belanglos« (Jung 1920, § 1057). Ihm sind die »vier Funktionen etwas wie die vier Himmelsrichtungen, ebenso willkürlich und ebenso unerlässlich wie diese« (§ 1029). Er fährt fort: »Aber eines muss ich bekennen, dass ich diesen Kompass auf meinen psychologischen Entdeckungsreisen auf keinen Fall mehr missen möchte, […] wegen der objektiven Tatsache, dass damit ein Maß und Orientierungssystem gegeben ist, das eine kritische Psychologie, die uns so lange gefehlt hat, ermöglicht« (§ 1030). Als Goethe und Schiller sich begegneten, waren sie voneinander begeistert und unternahmen in ihrem Briefwechsel (23. und 27. Aug. 1794) den interessanten Versuch, ihren typologischen Unterschied als Quelle für die gegenseitige fruchtbare Ergänzung auszumachen (vgl. § 137). Als Jung die zunehmende Entfremdung und Polarisierung mit Freud erleben musste, führte er dies u. a. auf ihre typologische Differenz zurück.
Wenn ein Patient typologisch diagnostiziert ist, dann ist therapeutisch zunächst nichts gewonnen. Die Einordnung kann Einseitigkeit sogar noch verfestigen. Erst wenn aus der Diagnose ein Ausgangspunkt für therapeutische Öffnung geworden ist, trägt sie Früchte. Wandlung kann eintreten. Wenn es sich um einen allgemein-menschlichen Konflikt handelt, dann geht es um das Aushalten von Gegensatzspannung, bis in einem regressiven Zustand eine Lösung erscheinen kann. Wenn es sich um einen neurotischen Konflikt handelt, muss Verdrängung vorher mehr oder weniger aufgehoben werden, damit sich eine Gegensatzspannung überhaupt erst aufbauen kann.
Schiller geht es in seinen Briefen um den pädagogisch-schöpferischen, Jung hingegen um den therapeutisch-schöpferischen Weg, insbesondere bei der »transzendentalen Funktion« (»Aktive Imagination«). Einseitigkeit wollen sie beide überwinden. Sie ist auch heute angesichts der zunehmend differenzierten Technologie und der abnehmend differenzierten Sinnlichkeit ein vorherrschendes Problem, wobei z. B. der aktuelle Erfolg des Konzeptes der Achtsamkeit als Impuls zur Gegensteuerung zu verstehen ist. Einseitigkeit speist sich aus verschiedenen Quellen: Sie entwickelt sich zunächst »angeborenerweise« (§ 109). Sie wird weiter gefördert durch die kollektiv-gesellschaftliche Progression und durch die Erziehung unserer gerichteten, willkürlichen Aufmerksamkeit, Schiller schreibt
(6. Brief): »Die Kultur selbst war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug« (Schiller, 1795/2000, S. 22).
Für die therapeutische Überwindung einer neurotisch chronifizierten Einseitigkeit gibt Jung eine wichtige Wegweisung an: »Der Zugang zum Unbewussten und zu der am meisten verdrängten Funktion aber erschließt sich sozusagen von selbst mit genügender Wahrnehmung des bewussten Standpunktes, wenn der Entwicklungsweg über die sekundäre Funktion geht« (§ 739). Das heißt: Eine Förderung der unterentwickelten, verdrängten Funktion geschieht durch Übung der »sekundären« Hilfsfunktion. Bei dominantem Denken wäre also das unterdrückte Fühlen zu fördern durch Übung der Empfindung, der sinnlich körperlichen Wahrnehmung, des Spürens.
Schillers Text gewinnt durch seine gesellschaftliche Perspektive den Charakter einer idealistischen Utopie. Es geht ihm aber daneben auch »um das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwürigern Lebenskunst«
(S. 63, 15. Brief). Er erkennt, dass der Weg zum besseren Staat darüber führt, dass »die Trennung des inneren Menschen wieder aufgehoben« wird (S. 29, 7. Brief). Jung geht es um Individuation und Therapie des Einzelnen. Es besteht also partielle Gemeinsamkeit: Beide sehen den Menschen, der schicksalhaft zwischen den Gegensätzen eingespannt ist, dazu bestimmt, sich zwar zum Vorteil der Gesellschaft auf Einseitigkeit einzulassen, diese dann aber durch ein »Drittes« zum Wohle des Individuums wiederum zu überwinden.
Die Gemeinsamkeit arbeitet Jung ausführlich heraus. Er interpretiert, übersetzt oder kritisiert Schillers Text: »Meine bisweilen vorgebrachte Kritik hat daher mehr die Bedeutung einer Transkription in eine Ausdrucksweise, welche die Schillersche Formulierung ihrer subjektiven Bedingtheit entledigt« (§ 99). Er kritisiert Schillers Neigung, Realität durch Idealisieren (z. B. der Griechen) abzuwehren, oder in die utopische Dimension auszuweichen. Er sieht bei ihm kritisch den »typischen Konflikt des introvertierten Denktypus« (§ 99), nämlich die beständige Neigung, »auf die Seite des vernünftigen Denkens hinüberzugelangen« (§ 176). Er findet in Schiller manchmal weniger den intuitiven Dichter als den reflektierenden Denker, der sich deswegen selbst widerspricht (§ 178). Schillers »Ästhetismus« ist ihm zu »eng«, »indem er immer vom Üblen, Hässlichen und Schweren wegblickt« (§ 183). Und er lobt Schiller: »Schillers Ausdruck für das Symbol, nämlich ›lebende Gestalt‹ ist glücklich gewählt […] « (§ 174). Auch legt er ihm eine andere Wortwahl nahe, wenn sich Widersprüche zeigen: »Er deutet es aber als ›ästhetisch‹, obschon er selber zuerst das Symbolische hervorgehoben hat«
(§ 178). »Ich habe diese Funktion der Vermittlung der Gegensätze als transzendente Funktion bezeichnet« (§174). »Die schöpferische Phantasie ist es, die Schiller als Symbolquelle erfasste, aber als ›Spieltrieb‹ bezeichnete« (§ 175). – Schließlich erkennt er in Schillers ästhetischer Andacht (»Anbetung«, S. 63f., 15. Brief) »eine regressive Bewegung der Libido zum Ursprünglichen, ein Hinuntertauchen in die Quelle des Anfangs« (§ 186–188).
Wenn es bei Böhme heißt, der dritte Trieb bei Schiller, der »Spieltrieb«, entspreche einer von Jungs vier Bewusstseinsfunktionen, nämlich der Intuition, dann droht hier ein Missverständnis: Es ist bei Jung zu unterscheiden zwischen einerseits der dritten Funktion, die als Hilfsfunktion hinzugezogen werden soll, und andererseits dem »Dritten«, der transzendentalen Funktion, die zur Konfliktlösung führt. Hierzu nochmals Jung:
Wenn Faust ausruft: ›Gefühl ist alles‹, so spricht er das Gegenteil des Intellektes aus, und damit gewinnt er bloß eine andere Seite, aber nicht die Totalität des Lebens und damit der eigenen Psyche, welche Fühlen und Denken in einem höhere Dritten vereinigt. Dieses höhere Dritte kann, wie ich bereits andeutete, als ein praktisches Ziel sowohl als die das Ziel erschaffende Phantasie verstanden werden. […] Diese Brücke ist uns in der schaffenden Phantasie gegeben. Sie ist keines von beiden, denn sie ist die Mutter beider – ja, noch mehr, sie ist schwanger mit dem Kinde, dem Ziel, welches die Gegensätze vereinigt. (§ 82)
Problematisch ist es auch, wenn es bei Böhme heißt: »Jung entledigt sich der Dreipoligkeit bei Schiller«, indem er die dritte Position – das Spiel, den ästhetischen Staat – nur eine »typische Projektion des intuitiven Introversions-Typus« nennt. Und weiter: »Das sei der überschwängliche Idealismus, […] letztlich eine pathologische Form des introvertierten intuitiven Typus.« Jung benutzt aber den Begriff der Projektion gar nicht in diesem Zusammenhang, sondern sinngemäß allenfalls dort, wo bei Schiller die utopische Dimension ins Spiel kommt. Und da gilt das allenfalls für den »ästhetischen Staat«. Böhme schreibt auch: »Das wiederum könnte man eine inkludierende Introversion nennen, die auf einer Exklusion jener Elemente beruht, die nicht subsumierbar sind, z. B. das triadische Denken bei Schiller, während bei Jung alles auf der Zwei, der Vier und der Acht beruht.« Das zeigt wiederum, wie Böhme Jung einseitig auf die diagnostische Dimension festlegt und die therapeutische ausblendet.
Die Wortwahl »Spiel« bei Schiller befindet Jung kritisch als zu leichtgewichtig. Er wertet damit aber Schillers Gedanken nicht als Projektion ab, sondern verleiht ihm Ernst und Gewicht. Hier liegt meines Erachtens die eigentlich spannendste Stelle, wo sich Schiller (13. bis 15. Brief) und Jung am nächsten kommen. Jung schreibt: »Das dritte Element, in welchem die Gegensätze zusammenlaufen, ist die einerseits schöpferische und andererseits rezeptive Phantasietätigkeit. Diese Funktion ist es, die Schiller als Spieltrieb bezeichnet, womit er mehr meint als er tatsächlich sagt« (§ 163). Jung verbindet Schillers »Spielen« mit seiner transzendenten Funktion und Schillers »lebende Gestalt« (14. Brief) mit seinem (und Goethes) Symbolbegriff (§ 162).
Es ist in diesem Zusammenhang noch (mit Jung (§ 175–178)) hinzuweisen auf Schillers weitsichtigen Versuch (19. bis 21. Brief), sich dem Begriff des Unbewussten anzunähern: »Der Mensch kann nicht unmittelbar vom Empfinden zum Denken übergehen; er muss einen Schritt zurückthun. […] Er muss also von aller augenblicklichen Bestimmung frey sein, […] an Inhalt völlig leer, und jetzt kommt es darauf an, eine gleiche Bestimmungslosigkeit, und eine gleich unbegrenzte Bestimmbarkeit […] zu vereinbaren.« Weiter: »Wenn also die […] Bestimmungslosigkeit aus Mangel, als eine leere Unendlichkeit vorgestellt wurde, so muss die ästhetische Bestimmungsfreyheit, welche das reale Gegenstück derselben ist, als eine erfüllte Unendlichkeit betrachtet werden« (S. 83, 21. Brief). Jung kommentiert: »Der Schritt zurück ist die Unterscheidung von den gegensätzlichen Trieben, die Ablösung und Zurückziehung der Libido von den inneren und äußeren Objekten«. (Mit einem anderen Wort: Regression.). Und: »Damit meint Schiller offenkundig dasselbe, was man als Introversion ins Unbewusste formulieren könnte« (§ 176).
Hier, wo aus dem Unbewussten das Symbol, das »Dritte«, entspringt, wo »die lebende Gestalt« sich formt, und wo Wandlung geschieht mit Anfang und Ende, mit Leben und Tod, – wohin unser sprachlicher Verstand nicht reicht (Schiller,
S. 64, 15. Brief) –, hier ist sich Jung mit Schiller einig. Das erfüllt ihn, und er lässt sich hinreißen: »Mit diesen Ausführungen über den mittleren Zustand sind wir nun, obschon wir uns durch Schiller haben dazu anregen lassen, weit über seine Auffassungen hinausgegangen.« Es ist kein Wunder, dass ihm das Schiller-Kapitel so lang gerät. Es trägt ihn beim Thema der Gegensatzvereinigung bis zum »urtümlichen Bild« (§ 178) der indischen Philosophie. Es ist nun die Frage, ob Schiller in dem Kapitel nur als »Anwendungsfall« für Jung bezeichnet werden kann oder ob es sich nicht eher um eine beglückende Begegnung handelt.

Soviel an Einwänden und Ergänzungen zu Böhmes Text, doch nun zu einigen seiner »kritischen Nachfragen«, mit denen er uns ein Feuerwerk zündender ­Gedanken beschert: Die Hinweise auf Jungs fragwürdig selbstverständliche Verwendung der Begriffe Subjekt und Objekt sowie auf die Feststellung von Ph. Descola, dass die Unterscheidung von Natur und Kultur europäisch-neuzeitlich bedingt sei, stellen unsere Unterscheidungen von Innenwelt und Außenwelt wie auch von Introversion und Extraversion in einen größeren Rahmen: Sie sind relativ und nur entwicklungsgeschichtlich und kulturspezifisch zu verstehen. Eine zeitlose, alchemistische ars combinatoria mag den Weg ebenso bereitet haben wie das Einschließen der unbewussten, kompensatorischen Präsenz der anderen Funk­tionen. Böhme hat Recht, wenn er sagt, dass man so niemals mit einer Typisierung wird scheitern können. Wenn er zu Jungs Typologie fragt: »Wovon ist sie aber abgeleitet?«, dann kann auf Jungs »Vorrede« hingewiesen werden: »Dieses Buch ist die Frucht einer beinahe zwanzigjährigen Arbeit im Gebiete der praktischen Psychologie.« Es ist demnach abgeleitet als »Abstraktion aus (therapeutischen) Erfahrungen«, wie Böhme an anderer Stelle selbst annimmt.
Böhme fragt weiter, ob nicht »Verschiebungen« des Typus in Gattungsgeschichte und im individuellen Lebenszyklus durchlebt werden können, so dass »jeder Typus transitorisch, relativ und historisch« ist. Hier ist die Annäherung an Jungs Individuationskonzept greifbar. Bezüglich der Modalitäten von aktiv und passiv beim Fühlen können wir kurz auf Jungs Aussage verweisen: »Es lässt sich eine aktive und eine passive Gefühlsapperzeption unterscheiden« (§ 805).
Auf Böhmes Frage, ob dem Fühlen bei Jung ein körperloser Seelenbegriff zugrunde liege, findet sich bei ihm folgende schöne Antwort: »Kann man sich dagegen mit dem Mysterium aussöhnen, dass die Seele das innerlich angeschaute Leben des Körpers und der Körper das äußerlich geoffenbarte Leben der Seele ist, daß die beiden nicht zwei sondern eins sind, so versteht man auch, wie das Streben nach Überwindung der heutigen Bewusstseinsstufe durch das Unbewusste zum Körper führt […]« (1931, § 195).
Ferner wird von Böhme die Frage aufgeworfen, ob die Einteilung in die vier Grundfunktionen des Bewusstseins einer bestimmten Anthropologie folge und ob Intuition vom gleichen systematischen Rang wie die anderen Funktionen sei. Es bietet sich folgende Sichtweise an: Für die schematische Darstellung der Funktionen wäre es vorteilhaft, sich von den bisher üblichen symmetrischen Schemata (Kreuz, Kreis, Tetraeder, u. a.) zu verabschieden. Stattdessen wäre es günstiger, bildlich von einer vereinfachten anatomischen Vorstellung auszugehen und sich dabei an die anthropologische Entwicklungsgeschichte anzulehnen. Bei solcher Darstellung wird auch deutlich, dass es sich hier nicht um Funktionen auf gleicher Ranghöhe handelt. Die psychischen Funktionen sind entwicklungsgeschichtlich nacheinander entstanden. Sie überlagern und überwölben sich; sie sind nicht energetisch gleichwertig. Auch lässt sich so die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Funktionen leichter postulieren. Jung nimmt diesen Blickwinkel übrigens auch selbst schon ein, wenn er schreibt: »Die Denk- und die Fühlfunktion als selbständige Funktionen entwickeln sich ontogenetisch wie phylogenetisch aus der Empfindung« (§ 789). Empfindung sei die »Mutterstätte« (§ 835). Oder er schreibt an anderer Stelle, das gerichtete Denken sei eine mehr oder weniger moderne Errungenschaft, die »gewaltige Erziehungsarbeit« erfordert habe (1950, § 17).
Zudem können uns Ergebnisse der Hirnforschung veranschaulichen, wie die Sinnesempfindung im Stammhirn (Reptilienebene) überlagert wird vom Fühlen im limbischen System (Säugetierebene), welche schließlich überwölbt ist vom Denken im Neocortex (Humanebene). Die Intuition schließlich wäre dann als archaisches, gefühlsverbundenes Denken (vgl. Jung, 1950) übergreifend anzusiedeln. Jungs bedeutsame Unterscheidung von Gefühl und Empfinden, welche ja eigentlich immer zusammengehören, werden so plausibel und therapeutisch fruchtbar: Empirisch zeigt sich nämlich, dass diese beiden Funktionen bei neurotischer Verdrängung nicht im gleichen Maße betroffen sind: Das Fühlen unterliegt häufiger der Abwehr als die Empfindung. Diesen Umstand machen sich heutige Therapeuten (z. B. Peter Schellenbaum und der Traumatherapeut P. A. Levine) in ihrer Arbeit zunutze, indem sie das Empfinden (Spüren) als Hilfsfunktion bevorzugt ansprechen. Dadurch lässt sich Zugang zum unterdrückten Fühlen gewinnen und ein Lösungsweg für den Konflikt bereiten.

Abschließend bleibt festzuhalten: Unsere Hoffnungen, die mit der Idee, Hartmut Böhme einzuladen, verbunden waren, haben sich erfüllt. Die kulturwissenschaftlichen Bezüge, die er entfaltet, haben unsere Sicht auf Jungs Typologie bereichert und uns zur kritischen Diskussion herausgefordert. Es ist jenes disziplinübergreifende Gespräch entstanden, das wir uns gewünscht hatten.

Literatur

Jung, C. G. (1950/1973). Über die zwei Arten des Denkens. In Gesammelte Werke
Bd. 5 (S. 25–54). Olten: Walter.
Jung, C. G. (1920/1967). Psychologische Typen. In Gesammelte Werke Bd. 6. Olten: Walter.
Jung, C. G. (1931/1974). Das Seelenproblem des modernen Menschen. In Gesammelte Werke Bd. 10 (S. 91–113). Olten: Walter.
Schiller, F. (1795/2000). Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart: ­Reclams Universal-Bibliothek.