Von Constanze Krauß, Berlin.
Die Welt ist viel leerer als sonst und distanziert. Und sie lebt plötzlich.
Heute habe ich einen Teppich nach Hause getragen. Auf dem Gehweg bin ich aus heiterem Himmel von einem Herrn angesprochen worden, der sich als professioneller Gebäudereiniger ausgab und mich fragte, ob der Teppich sauber sei, „weil da können sich alle möglichen Bakterien und Tierchen drin tummeln. Das können Sie sich gar nicht vorstellen!“, meinte er. Es schien ihm wirklich ein Anliegen zu sein, mir das zu vermitteln. Der Teppich lebt! Alle Oberflächen und auch die Luft sind plötzlich unsichtbar belebt. Am Ende hole ich mir jedes Mal, wenn ich die Wohnung verlasse, neues Leben mit hinein. Und den Tod. Wie soll ich da noch ruhig schlafen?
Offenbar liegen die Assoziationen von Krankheitserregern und Insekten recht nahe beieinander. Aber so viel Tod ist mir, milde formuliert, gar nicht recht, und so viel Leben vielleicht auch nicht. Infektiöses, schnell übertragbares Leben. Etwas weiter gesponnen ist es der klassische Horror von einem Haufen wimmelnder Insekten, die etwas Größeres erst überziehen und dann unmerklich vertilgen, ohne auch nur einen Krümel übrig zu lassen. Noch weiter gesponnen denke ich unmittelbar an tote Körper in der Erde: auch dort Insekten. Und dabei hatte ich mir doch vorgenommen, die Corona-Krise zu nutzen, um meinen Alltag etwas zu entschleunigen und in Ruhe ein gutes Buch zu lesen. Spontan empfinde ich dieses Getümmel als übergriffig. Ich fühle mich weniger abgegrenzt, durchlässiger nach außen hin. Es ist wie früher in der Grundschule, wenn mir sofort der Kopf gekribbelt hat, sobald von Kopfläusen die Rede war. Aber die kann man wenigstens sehen. Der Corona-Virus ist einfach in die Luft gestreut.
Am besten, ich stelle den Teppich erstmal in den Keller, wer weiß, und ziehe mir frische Sachen an, oder am besten gleich den Schlafanzug, um ganz sicher zu sein.
Um ehrlich zu sein, habe ich den Gebäudereiniger nicht ganz ernst genommen. Aber während ich diesen Text schreibe, ist es natürlich auch bitterernst. Das Thema berührt wirklich den Tod. Die Nachrichtenbilder der vergangenen Wochen, die Krankheit an sich, finden in meinem konkreten Alltag, genau wie die Vorstellung von den in meinem Teppich möglicherweise wimmelnden Bakterien, kaum einen Niederschlag. In meinem Umkreis gibt es niemanden, der wissentlich an dem Virus erkrankt ist, wofür ich dankbar bin. Ein bekannter Arzt erzählte mir, dass er im Krankenhaus im Moment weniger zu tun hat als gewöhnlich, weil viele Betten freigehalten werden. Die Nachrichtenbilder bleiben für mich auf dem Bildschirm und damit auch irgendwie abstrakt. Es ist wie die Feueralarmprobe in der Schule. Es riecht im Treppenhaus sogar nach Rauch, und trotzdem bleibt die aufkommende Panik irgendwie unter der Schwelle. Nichtsdestotrotz bin ich flatterig und habe das Gefühl, dass ich nicht ganz ruhig schlafen kann.
In der Zwischenzeit habe ich einen psychogenen Reizhusten entwickelt. Natürlich habe ich Angst. Auf der anderen Seite gibt es da aber auch etwas Tröstliches. In manchen Analysestunden kann ein schmerzlicher (innerer) Verlust realisiert und endlich betrauert werden, gepaart mit der Einsicht, dass es nichts bringt, oder vielmehr nicht mehr nötig ist, dagegen anzukämpfen. Einer meiner Supervisoren meinte letztens, als ich ihn fragte, ob er also ein Verfechter des freudianisch entfernten Karies sei, aber ohne Goldfüllung: „Ja, keine Goldfüllung, aber ich halte die Hand.“ Ich beziehe mich hier auf eine etwas hämische Kritik Jungs in seinem Nachruf auf Freud. Jung wirft Freud dort vor, dass er „keinen Ersatz für verlorengegangene Substanz“ zu bieten habe (Jung, C. G. (1939/1971), Sigmund Freud. In GW 15, Olten: Walter. §69). Genau diese Trauerarbeit, die Einsicht, dass es vorerst keinen Ersatz und keine Wiedergutmachung gibt, ist aber das, was ich hier als tröstlich betrachte. Ich meine damit, dass das unerträgliche Ausgeliefertsein, die eigene Verletzlichkeit im Innen gehalten werden können, statt bekämpft zu werden. Die Trauer löst die Wut und den Neid ab. Vielleicht ermöglicht erst diese Einsicht, dass ein Mensch sich in seiner ganz subjektiven Form, in seiner Figur von seinem Grund abhebt (ich nehme hier Bezug auf den Blog-Beitrag von Michael Péus). Die Trauerarbeit mündet dann eventuell in eine Erfahrung der eigenen Schutzlosigkeit, Ungeborgenheit und völligen Ausgesetztheit in der Welt. Ich meine, dass diese existenzielle Erfahrung, obwohl sie uns erschüttert, auch befreit und den Grund (das Selbst?) erst für uns sichtbar werden lässt. Und dann können wir über die Welt staunen und den Anderen als Anderen erkennen. Ich hoffe damit, dass ich etwas weicher werden kann, wenn ich es schaffe, auch nur ansatzweise meine eigene Endlichkeit anzuerkennen. Dazu fällt mir die Theateraufführung im Rahmen der DGAP-Tagung im März dieses Jahres ein, in der es hieß: „Ist das noch Innehalten, oder schon Ohnmacht?“ Da möchte ich jetzt sagen: Ja! Beides!
Was für mich in den letzten Wochen viel schneller einen konkreten realen Charakter bekommen hat als die Corona-Krankheit an sich, ist die Politik, die eben nicht nur auf dem Bildschirm blieb. Meine bisherige Politikverdrossenheit verfliegt. Es können also doch politische Entscheidungen getroffen werden, und es passiert dann tatsächlich etwas, und das auch noch sehr rasch und obendrein völlig entgegen der wirtschaftlichen Interessen? Wow! Das hätte ich wirklich nicht für möglich gehalten. In diesem Sinne hatte ich zunächst die Fantasie, dass diese Politiker doch gute Elternfiguren abgeben. Sie erscheinen mir nicht nur besorgt und gut informiert, sondern sie sind auch noch tatkräftig, um die Bevölkerung zu schützen. Wenn ich sehe, wie Angela Merkel auf meinem Bildschirm sagt, dass mein Friseur vorerst schließen muss, dann hat mein Friseur tatsächlich zwei Tage später geschlossen. Das fasziniert mich. Ich verspüre daher kaum inneren Widerstand gegen die Einschränkungen, sondern fühle mich beinahe noch behütet.
Diese Potenz der Politik, die mich zunächst beeindruckt hat, lässt natürlich neue Hoffnungen aufkeimen. Es ist schließlich ein verlockender Gedanke, dass wir jetzt durch die Krise aufgerüttelt sind und unser kapitalistisches, den Menschen hintan stellendes Wirtschaftssystem und unser umweltzerstörendes Handeln umfassend überdenken und ändern. Und doch erscheint es mir auch naiv. Wie Stefan Wolf in seinem Blog-Beitrag schreibt, klingelt der Wecker schon lange, und wir sind im Prinzip auch schon lange aufgewacht. Eben in den Nachrichten habe ich wieder eine Frau gesehen, die eifrig beteuerte: „Ja, jetzt merken wir, was wir schon lange versäumt haben. Unser Schulsystem hätte schon lange viel intensiver digitalisiert werden müssen. Dann hätten wir jetzt diese Probleme nicht.“ Es fühlt sich gut an, unsere jetzt so spürbare Hilflosigkeit zu überwinden, indem wir auf umfassendere Missstände verweisen, die eigentlich ja in unserer Hand liegen. So können wir uns wieder der Lage gewachsen erleben. Ich denke an einen Vortrag von Roman Lesmeister bei unserer Tagung Abandoning the Child im November letzten Jahres, in dem er beschrieb, dass Menschen gern in dem Bewusstsein leben, alles Übel hätte eigentlich verhindert werden können, wenn nur die Menschen nicht so nachlässig gewesen wären. Im Prinzip kann dann jeder auf alles vorbereitet sein. Vor allem die moderne Technik macht es möglich. Man muss sich nur hinreichend informieren. Aber ganz so einfach ist es nicht. Wir hätten diese Krise auch nicht unbeschadet überstehen können, wenn wir besser vorbereitet gewesen wären. In diesem Sinne sträubt sich auch etwas in mir gegen den aktuellen Aktivismus auf der digitalen Ebene. Lehrveranstaltungen, Behandlungsstunden, Treffen mit Freunden und Familie, Freizeitaktivitäten, alles scheint dank der technischen Möglichkeiten einfach weiter zu funktionieren. Die Bemühungen, dass alles möglichst wie gewohnt weitergeht, sind immens. Der Enthusiasmus für die digitalen Möglichkeiten ist groß. Aber warum nicht tatsächlich einfach mal stehen bleiben und innehalten?
Ich möchte hier noch ein Gedicht von Alfred Kolleritsch (Kolleritsch, A. (2013), Es gibt den ungeheuren Anderen, Graz – Wien: Literaturverlag Droschl, S. 17) anfügen:
Unerwartet fiel er zurück
in die Gedichte,
sie stieß ihn ins Trübe,
wo alles verschlossen war,
verlebt, zersprungen,
nicht mehr frei und bereit.
Sie hatte Tränen dafür,
weichte die Spuren auf,
neigte sich her,
als hätte er wieder Wunden
und die Kraft, sie zu öffnen.
Bin sehr beeindruckt, liebe Frau Krauß, von Ihrem schönen und klugen Beitrag, der in einer so frischen Sprache uns einlädt. Sie muten unserer Seelenarbeit zurecht Einiges zu, wenn Sie raten, die Gefühle von Ausgeliefertsein und Ohnmacht im eigenen Inneren zu halten. Besonders nachdenklich gemacht hat mich Ihr Jung-Zitat: „Die Freudsche Psychologie offeriert keinen Ersatz für verlorengegangene Substanz.“ Die Jungsche Psychologie aber wohl!? Sie haben das sehr schön geschildert: ein Verlust an seelischer Allmacht in dieser schweren Zeit erfordert nicht Ersatz, wohl aber Trauerarbeit in Anwesenheit einer helfenden Hand. Können wir Jung zustimmen, wenn er über Freuds Gedankenwelt schreibt: „Nirgends öffnet sich ein befreiender Durchblick auf hilfreiche, heilende Kräfte, welche das Unbewußte dem Kranken zugute kommen ließe.“ (GW 15, Paragraph 68).
Freud empfahl die Psychoanalyse wegen ihres Wahrheitsgehalts. Er hatte einen emphatischen Wahrheitsbegriff. Was ist psychische Wahrheit? Dass es keinen Ersatz für Verlorenes gibt. Aber hilfreiche Kräfte aus dem Unbewussten gibt es. Herzlichen Dank, liebe Frau Krauß.