Von Mostafa Kazemian, Zürich.
Unsere aktuelle Situation könnte uns zeigen, dass der Mensch und seine Strukturen, im Unterschied zur üblichen Betrachtungsweise, zu- zerbrechlich und vulnerabel sind. Menschen, die bis vor einigen Tagen noch gesund waren, verlieren ihr Leben in Folge einer akuten Lungenentzündung. Ihr Tod lässt die Angehörigen in tiefer Trauer zurück. Auch die festen Strukturen der Menschen sind beeinträchtigt. Seit einigen Wochen ist kaum ein Flugzeug am Himmel zu sehen, die Straßen sind fast leer von Autos, und das gegenwärtige Leben ist stillgelegt. Es geht ein ‚Riss’ durchs alltägliche Leben des modernen Menschen; sein Sicherheitsgefühl, seine Kontrolle und Macht über die Realität sind erschüttert, was ihn zunehmend beängstigt.
Wahrscheinlich waren es ähnliche Erlebnisse bei Pest- und Cholera-Epidemien, die den prämodernen Menschen in seiner Suche nach psychischem Halt bzw. einer Erklärung für sein ungewisses, zerbrechliches Leben Mythen und Religionen entwickeln ließ, später auch philosophische Systeme. Erst Jahrhunderte später ermöglichte ihm die experimentelle Wissenschaft, Naturereignisse zu erklären und zum Teil kontrollieren zu können.
In der aktuellen Situation ist jedoch die Wissenschaft selbst zu einem gewissen Grad ratlos, auch wenn ohne sie die Zahl der Verstorbenen viel höher sein könnte.
Auf jeden Fall ist es möglich, dass dieses (Wieder-)Erkennen der Zerbrechlichkeit und Vulnerabilität des Menschen und seiner Strukturen unser einseitiges Bild von Natur und Sein zum Teil korrigieren kann. Wahrscheinlich ist aber davon ausgehen, dass der Mensch nach dieser Krise erneut die einfacheren Wege zu seiner Sicherheit und Ruhe beschreiten wird, was seinen psychischen Bedürfnissen nach Stabilität und Überleben entspricht.
Nun, wie können wir mit dieser bitteren Wahrheit, nämlich der Zerbrechlichkeit des Menschen und seiner Strukturen umgehen? Vermutlich ist eine direkte Auseinandersetzung damit unvermeidlich. Allerdings wäre das keine Haltung, die jedem Menschen zu empfehlen wäre. In diesem Zusammenhang beziehe ich mich hier auf die Philosophie von Karl Jaspers, der Zeitzeuge des Faschismus und zweier Weltkriege war.
In seiner Philosophie gibt es den Begriff ‚Grenzsituationen’, um die Situationen zu beschreiben, die an den Grenzen unseres Daseins gefühlt, erfahren und gedacht werden. Dabei geht es um Situationen,
„deren Gemeinsames [es] ist, daß –immer in der Subjekt-Objekt-gespaltenen, der gegenständlichen Welt –nichts Festes da ist, kein unbezweifelbares Absolutes, kein Halt, der jeder Erfahrung und jedem Denken standhielte. Alles fließt, ist in ruheloser Bewegung des in Fragegestelltwerdens, alles ist relativ, endlich, in Gegensätze zerspalten, nie das Ganze, das Absolute, das Wesentliche.“(Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 1954, Springer Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg, S. 229)
Die wichtigsten Erfahrungen in solchen Situationen sind nach Jaspers der Zufall, der Tod, der Kampf und die Schuld. Diese sind als Grenzziehungen zu sehen, die den menschlichen Zielen und dem allgemeinen Wertstreben entgegenstehen. Jaspers erwähnt vier Aspekte, die die Grenzsituationen zu Grundsituationen machen: ihre Unwandelbarkeit, ihre Endgültigkeit, ihre Unüberschaubarkeit und ihre Undurchdringlichkeit.
Die Unterbrechung der Kontinuität des bisherigen Lebensentwurfs schafft jedoch auch, wie Thomas Fuchs erwähnt, „die Möglichkeit der Freiheit, nämlich in die Grenzsituationen einzutreten, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und damit gleichsam ein Widerlager für den ‚Aufschwung’ zur eigenen Existenz zu gewinnen.“ (Thomas Fuchs, Ansätze zu einer Psychopathologie der Grenzsituationen, in: Rinofner-Kreidl, Sonja/Wiltsche, Harold A., Karl Jaspers’ Allgemeine Psychopathologie zwischen Wissenschaft, Philosophie und Praxis, 2008, Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg, S. 97)
Die aktuelle Pandemie-Krise ist wahrscheinlich für die Menschen an den Grenzen der Gesellschaft, die Gefangenen, Gefolterten und Flüchtenden, die Menschen in den unterentwickelten Ländern weniger erschütternd. Sie waren ungewollt unentwegt Grenzsituationen ausgeliefert und ständig auf der Suche nach einer gewissen Stabilität und Ruhe. Nach der aktuellen Krise mit ihren Folgen für die Wirtschaft wird ihr Leben jedoch noch viel schwieriger werden.
In einer Zeit, in der Mythen entmythologisiert worden sind, die Götter ihre Macht -zumindest zum Teil- verloren haben und Philosophie langsam zur Seite geschoben wurde, ist wahrscheinlich eine direkte Auseinandersetzung mit unserer Vulnerabilität und der Ungewissheit der Realität unerlässlich.
Ich habe aber nicht vor, Hoffnungslosigkeit zu verbreiten. Parallel zur Akzeptanz dieser fundamentalen Zerbrechlichkeit des menschlichen Wesens und zu einer Auseinandersetzung damit benötigen wir eine Stärkung unserer Persönlichkeit sowie die Etablierung eines angemessenen Lebens. Dieses Leben müsste jedoch ein anderes sein als unser gewohntes, konsumorientiertes in unserer neoliberalen Welt.
Letztlich versucht dieser Text, den existentiellen Grundgehalt zu erwähnen, mit dem wir durch die Bilder von gestapelten Särgen und des Stillstandes der Straßen konfrontiert sind. Eine -existentielle – Krise könnte uns die Möglichkeit schenken, uns mit uns selbst zu konfrontieren, uns der Vergessenen und Verlassenen zu erinnern und aus der Unbewusstheit herauszufinden, bevor das uns bekannte Leben zurückkehrt mit seiner uns bezaubernden Lethargie.