10.5.2021

Von Stefan Wolf, Berlin. Die Lage ändert sich von Woche zu Woche. Vor wenigen Tagen noch hatte man den Eindruck, mit dem Impfen gehe es bei uns einfach nicht voran. Jetzt plötzlich heißt es von allen Seiten: ich bin geimpft, du auch?

Meine erste Impfung ist jetzt acht Wochen her und ich bin froh, dass mich niemand fragt, wie es mir damit geht. Ich könnte es nicht sagen. Womöglich ist die Angst ein wenig geringer geworden, aber nicht einmal das ist sicher. Sie war auch schon davor zurückgegangen. Alles eine Frage der Gewöhnung. Was an ihr ist echt und bleibt, was nur eingebildet und flüchtig?  Nach einem Jahr mit anderen Regeln gibt es inzwischen verschiedene „Normalitäten“, mit eigenen Übergangszonen. Ich frage die anderen: Wie ist es bei dir? Irgendwas anders seitdem? Einige reagieren ruckartig beschwingt. Die meisten murmeln etwas von Erleichterung. Halten sie sich vielleicht nur zurück, aus Rücksicht auf die Mehrheit der Nichtgeimpften? Man kann schließlich nicht gutgelaunt unter lauter Gefährdeten herumspazieren. Oder sind auch sie sich nicht sicher? Man bleibt Teil einer ungewissen Gesamtlage. Unmöglich sich da herauszuimmunisieren.

Vor einem Jahr war aber genau dies die Vorstellung: Es wird einen Impfstoff geben und danach ist alles wieder wie vorher, zunächst für einen selbst, am Ende für alle. Nun ist es passiert und man horcht in sich hinein und wartet auf die erlösende Wirkung. Und obwohl sie ausbleibt, hat doch der Tag der Impfung einen Platz im Gedächtnis wie einer, an dem etwas für immer anders wurde. So klar und lückenlos ist die Erinnerung an ihn. Der Morgen, die Sonne, die Fahrt zum stillgelegten Flughafen – ausgerecht dort, wo es ein Jahr zuvor für den Bürger noch hinaus in die weite Welt ging, ist nun das Impfzentrum eingezogen! Ein Einfall wie aus einem Roman von Michel Houellebecq. Noch nie war die Straße nach Tegel so frei, an keinem noch so frühen Morgen. Dann die orangebewesteten orientalischen jungen Männer, die an jeder Straßenbiegung stehen, den Blickkontakt zu mir suchen, um mir mit entschiedener Armbewegung den Weg zum verwaisten Parkplatz zu zeigen. Umstände wie bei heiklen Grenzkontrollen. Danach die aufgekratzte Stimmung der jungen Krankenschwestern in der kurzen Warteschlange vor mir. Sie schnattern, als ginge es auf einen Ausflugsdampfer. Und wie „unwirklich“ das alles ist und dass es sich immer so anfühlt, wenn gerade etwas besonders „Wirkliches“ geschieht. Im riesigen Inneren des Terminals ein Labyrinth von weißen Boxen und markierten Wegen, dimensioniert für die Abfertigung von Tausenden, aber es sind nur ein paar Dutzend da. Auch hier an jeder Biegung, alle zwanzig Meter ein junger Mensch, der nur dort steht, damit kein Priorisierter vom Wege abkommt. Ist die Sache vielleicht doch nicht ganz harmlos? Der Ausnahmezustand ist jedenfalls ein perfekt organisierter Zustand. Der Impfarzt, ein gemütlicher älterer Herr mit seinem Sohn als Helfer, beide von gleicher Leibesfülle und einander so ähnlich, dass es ein wenig kurios wirkt, wie ein Paar aus einem alten Lustspielfilm, auch sie sehr nervös. Er fragt mich nach meinem Fach und so können wir uns, bevor er zur Spritze greift, kurz in den Humor retten.

War das also die Zäsur, die Rückkehr zur Normalität? Werden uns in Kürze von diesem zurückliegenden Jahr nur noch die enormen Staatsschulden beschäftigen, die sich in ihm angehäuft haben? Wird es nur die spukhafte Unterbrechung einer vertrauten Normalität gewesen sein oder doch der Übergang in eine merklich andere?  Man hat keine Ahnung. Es ist wie schon in früheren Situationen dieser Art, z.B. im Herbst 1989. Steckt man mitten in einer neuen Geschichte, kann man sie noch nicht erzählen. Und solange man sie nicht erzählen kann, behält sie etwas Unwirkliches. Wirklichkeit ist etwas erzählbar Gewordenes.

Aber erzählen heißt nicht unbedingt reden. Auf Youtube läuft in diesen Tagen der Film „New York City Ballett 2021 Spring Gala“ von Sophia Coppola, eine Dokumentation, die im Lockdown entstand. Zu sehen sind Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Choreographien, die die Tänzer des Balletts in ihrem geschlossenen Theater aufgeführt haben. Das vierte Stück, die Darbietung von Anthony Huxley zu Samuel Barbers Adagio des Streichquartetts op. 11 übertrifft alles. Seine kunstvollen Läufe auf der riesigen Bühne vor dem leeren Parkett sind eine vollständige Erzählung unserer jüngsten Erfahrungen. Plötzlich ist das Gefühl der Unwirklichkeit wie weggewischt und das menschliche Sein in all seinen Regungen so nah, dass man meint, seinen Herzschlag zu hören.

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