Totentanz

von Antje Feistel, Ausbildungskandidatin, Tanztherapeutin.

Die Welt im Shut down. Woche drei.

Es geht auf Ostern zu, und ich denke über Tod und Auferstehung nach. Vor drei Wochen zog ich eine Tarotkarte – der Tod. Zuerst erschrak ich, dann wunderte ich mich; das düstere Bild schien gar nicht zu meiner gut gelaunten Stimmung zu passen. Ich schob die Karte weg und dachte nicht mehr daran.

Einen Tag später hatte ich eine erste Probe mit der russischen Choreographin Vika Golubewa, die mit an einer Ballettaufführung von Polina Großmann arbeitet, die im Oktober unter dem Namen „Illusion und Bewegung“ in Berlin aufgeführt werden soll. Inhalt der Aufführung sind Bilder impressionistischer Künstler, die über den Tanz zum Leben erweckt werden sollen. Mir wurde gesagt, ich solle ein Solo tanzen, und ich war sehr gespannt, welches Bild ich verkörpern sollte. Ich fühlte mich vital und hoch motiviert und erschrak ähnlich wie bei der Tarotkarte, als mir der Titel meines Solos genannt wurde: Totentanz. Das dazugehörende Bild von Max Slevogt zeigt eine rothaarige Frau, die ihr schwarzes wallendes Kleid in ihrem Rücken rafft; sie schaut über ihre Schulter und lächelt. Zu Musik von Benoit Jutras wurden mir bei der Probe Bewegungen voll von Verdrehungen, kraftvollen Sprünge, beschwörenden Gesten – vernichtend und erschaffend – bei ständig nach vorne gerichtetem Blick übertragen. Die Bewegungen sollten nicht schön sein, das Publikum solle Angst bekommen, die ganze Zeit gebannt sein im Gefühl des Erschauerns … ich sollte an einen Horrorfilm denken.

Ich musste an „Susperia“ von David Kajganich aus dem Jahr 2018 denken:In diesem Film spielt Tilda Swinton die düstere und charismatische Leiterin eines Tanzensembles in West Berlin. Die Tanzschule entpuppt sich als Ort des Grauens, da über den Tanz dämonische Kräfte freigesetzt werden, die den Tanzenden nach und nach das Leben entzieht und auf grausame Weise verenden lässt. Die todbringende Choreographie „Volk“ stammt aus dem Dritten Reich und verkörpert die Trance und den Wahn, unter der die Menschen damals standen. Mir wurde mulmig bei dem Gedanken an den Film, gleichzeitig gab er mir die Möglichkeit, mein Solo mit einem Ausdruck und einer Haltung zu tanzen, die dem Thema entsprach.

Eine zweite Probe war drei Tage später angesetzt. Genau in dieser Zeit wurden die erschreckenden Bilder aus Italien mit den vielen Toten durch den Covid 19 Virus zum Anlass genommen, soziale Kontakte einzustellen und sich nicht mehr in Gruppen zu treffen; auf Freizeitbeschäftigungen sollte verzichtet werden. Auf einmal bekam meine Rolle eine reale Dimension: ich hatte zwar keine Angst um mich, bedrohte das Virus doch eher ältere Menschen, aber mir wurde auf einmal klar, dass ich andere anstecken könnte mit potentiell tödlichen Folgen für den anderen. Schweren Herzens sagte ich die Probe ab.

Meinen inneren Zustand von damals kann ich erst jetzt in Worte fassen. In mir kämpften Vernunft und Angst. War es vernünftig, die Probe abzusagen? Handelte es sich in mir um eine reale Furcht? Oder um Angst, die nichts mit Vernunft zu tun hatte, sondern mit magischem Denken? Warum sollte ein Zusammentreffen, das am Montag noch ok war, am Donnerstag potentiell lebensbedrohlich sein? Hatte ich mich zu sehr in meine Rolle hineingesteigert? War ich innerlich nicht bereit dafür, eine so mächtige Figur zu tanzen?

Ein weiterführender erschreckender Gedanke, der mich zum Weinen brachte, war der, nun in einer Welt zu leben, in der Berührung, körperlicher Kontakt, Zusammenkünfte mit Freunden bis auf weiteres verboten sein sollten. Nach heftigen Gefühlswallungen wie Wut und Traurigkeit entschied ich mich dafür, daran zu glauben, dass ich aus Vernunft und Verantwortungsgefühl handelte. Durch meine Selbstzurücknahme konnte ich keine Gefährdung mehr für andere sein. Ich passte mich an die offiziellen Vorgaben an. Es ging mir dann besser.

Dann folgte eine Welle der Dankbarkeit für meine privilegierte Wohnsituation, ich freute mich, unter Bäumen sein zu können, ich war dankbar Wälder und Felder in der Nähe zu haben und dort nach wie vor Momente der Freiheit erleben zu können.

Die Nachrichten von sterbenden Menschen in Italien und von der steigenden häuslichen Gewalt in meiner Stadt durch die Quarantänemaßnahmen standen allerdings in einem totalen Kontrast zu sonnigen Frühlingstagen im Wald und häuslicher Harmonie.

Die Realität erreichte mich endgültig in meiner Praxis durch Fragen wie „Dürfen die Patienten weiter kommen? Welche Schutzmaßnahmen müssen getroffen werden?“ Einige Fragen wie „Telefonbehandlung: ja oder nein? Videobehandlung: ja oder nein? Welcher Anbieter?“ lenkten von der für mich noch nicht geklärten Grundfrage ab: „Wie gefährlich ist das Virus wirklich und stehen die Maßnahmen in einem ausgewogenen Verhältnis dazu?“ Und daraus entwickelte sich die für mich dringendste Frage:  „Welche Haltung zu dem Virus nehme ich gegenüber den Patienten ein?“

Ich stellte fest, dass mir meine Haltung der Anpassung in dem Moment absurd vorkam, als ich nicht mehr allein im Wald war. Und ich bemerkte, wie sich meine innere Haltung anfing von meiner äußeren zu trennen. Ich informierte mich weiter über die neusten Nachrichten vom Virus und dessen Gefährlichkeit, fügte mich allen Vorgaben zu Hygiene und social distancing. Aber innerlich nahm ich eine zweifelnde, kritische Haltung ein und war erstaunt, wie schnell sich das öffentliche Leben lahm legen ließ, wie hörig die meisten Deutschen kooperierten (mich selbst inbegriffen!), wie sich neben der von allen betonten Solidarität eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens ausbreitete. Nachrichten über Hamsterkäufe und fehlendem Klopapier in Deutschland waren in der Berichterstattung wichtiger als die Situation in den Flüchtlingslagern in Griechenland oder die fatale Situation der Menschen in Venezuela. Auf einmal war es mir möglich, mich in die Realität meiner Großeltern einzufühlen: so fühlt es sich also an, mit zu schwimmen in einem Strom, der nicht mehr vom Individuum steuerbar ist.

In dieser Phase wechselten sich Angst und Depression in mir ab, und an diesem Punkt spürte ich, dass es nicht die Angst vor dem Virus war, sondern vor dem angstgesteuerten Verhalten in mir und in der Gesellschaft.

Hoffnung gab mir die Kreativität von Menschen in Quarantäne, die sich durch Videos auszudrückten, deren Humor mich teilweise zu lautem Lachen brachte, und mir halfen, tief Luft holen zu können. Lesungen von Schauspielern, Musikinszenierungen in leeren Konzertsälen, Tanzklassen in Küchen und Wohnzimmern berührten und inspirierten mich und gaben mir wieder Zuversicht, dass die Lebendigkeit siegt.

In meinen Behandlungen fühlte ich mich in dieser Erfahrung bestätigt. Auch schon vor der Corona Krise wurde deutlich, dass die Beschäftigung mit den Künsten eine sinnstiftende Funktion im Leben vieler meiner Patienten hat. Die Beschäftigung mit Malen, Musizieren, Schreiben, Tanzen kann darüber entscheiden, ob ein Mensch an der Welt verzweifelt oder sich aufrichten und gestalterisch tätig werden kann, sich auf sinnliche und sinnvolle Weise mit der Welt verbinden kann und symbolisierungsfähig ist. Nun ist dieser Bereich auf unbestimmte Zeit in die digitale Welt verlagert und entfaltet dort seine heilende Wirkkraft.

Aber was ist mit all den Menschen, die keinen Zugang zu den sozialen Medien haben?

Was ist mit den Menschen, die kein fließendes Wasser haben und deren Kinder nicht in die Schule gehen können? Bei diesen Gedanken setzte eine tiefe Betroffenheit und Beschämung bei mir ein: Meine kleine Welt bricht zusammen, wenn ich eine Probe absagen muss und meine Freunde vorübergehend nicht mehr sehen und nicht verreisen kann. Hoffnung gab mir wiederum, dass die Umwelt sich erholen kann und dass die Forderungen der Fridays for Future-Bewegung  vielleicht doch noch umgesetzt werden könnten. Was also in unserem System und in uns selbst muss sterben, damit unser Planet und damit auch wir überleben können?

Wenn ich heute auf die letzten drei Wochen zurück blicke, kann ich meine Gefühle den Trauerphasen von Kübler-Ross zuordnen: Leugnung, Zorn, Verhandlung, Depression und Akzeptanz. Etwas stirbt in mir – aber was? Meine Gedanken gehen zurück zu der rothaarigen Frau auf dem Bild von Max Slevogt. Sicher wäre sie im Mittelalter denunziert worden und auf dem Scheiterhaufen im Namen der Kirche verbrannt worden. Sie steht für das weibliche Prinzip von Leben und Sterben, das jenseits der Kontrolle des Patriachats existiert und an die eigene Ohnmacht erinnert. Erst beim zweiten Hinschauen entdeckte ich hinter der Frau die Figur eines Mannes mit einer Maske, man sah ihn erst nicht, er schien ein Teil der Frau zu sein. Das Bild zeigt auf fantastische Weise die Untrennbarkeit von Weiblichem und Männlichen, Licht und Schatten. Seit jeher dient Projektion und der Wunsch der Vernichtung des Bösen im Außen der eigenen Angstabwehr, was projizieren wir also gerade auf das Virus, das mittlerweile die ganze Welt beherrscht? Mit welchem inneren Anteil von uns wollen wir nichts zu tun haben?

Mit all diesen Gedanken und Gefühlen, die mich innerlich hin und her schleudern, blicke ich dem Ende der Corona Krise entgegen und frage mich, ob es für uns vielleicht eine Möglichkeit gibt, uns als Weltgemeinschaft wahrzunehmen, Grenzen anzuerkennen, ohne sie schließen zu müssen, die gegenseitige Abhängigkeit, Verbundenheit  und Verantwortung zu spüren zwischen den Staaten, aber auch zu Mutter Erde. Vielleicht hilft uns das Virus ja, die Endlichkeit und Fragilität unseres physischen Lebens zu akzeptieren, den Totentanz nicht nur zu fürchten, sondern als Teil des Lebens anzunehmen und an eine globale Auferstehung zu glauben, die ein neues Zeitalter des Bewusstseins einläutet, in dem jedes Leben geachtet und geschützt wird, aber auch in Würde sterben darf.

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