«Fernnähe»

von Thomas Schwind, Münster.

Die neue, ungewohnte, plötzlich über uns kommende, vielleicht notwendige Form des Zusammenseins und Zusammenlebens unter Corona-Bedingungen, das sogenannte social distancing oder auch das „Abstandsregeln“ genannte Verfahren der Begegnung brachte  mich auf die Idee, meinen intersubjektivistischen psychoanalytischen Ansatz hier doch etwas genauer in Anspruch zu nehmen. Hilfreich dazu ist mir ein japanischer Philosoph, Ryosuke Ohashi, zurzeit wahrscheinlich der führende Vertreter der Kyotoer Schule der Philosophie und der japanischen Phänomenologie, der ein sehr interessantes Buch geschrieben hat: „Phänomenologie der Compassion. Pathos des Mitseins mit den Anderen“.

Darin prägt Ohashi den Begriff der Fernnähe“. Dieser Begriff wird angesichts einer neuen Form der Sozialität interessant: der/die/das Andere soll sich nunmehr im Abstand, in der Ferne ( in welchem Abstand: 2 Meter ?) halten, insofern der/die/das Andere für mich eine Gefahr darstellen könnte. Ich erlebe unterwegs manchmal Menschen, denen die Angst vor mir als möglichem Infiziertem – und damit einem möglichen Todbringer – ins Gesicht geschrieben steht und die peinlichst darauf bedacht sind, von mir fern zu bleiben. Ich bin dann nicht irgendein personaler Anderer, sei es ein zu umarmender Freund oder zu bekämpfender Feind, sondern ich bin eine Projektionsfläche für den Tod, den der Andere als das ganz Andere in sich selbst trägt, aber auf mich projiziert. Aber ich bin eben nicht nur Projektionsträger, sondern ich könnte ja tatsächlich dem Anderen den Tod bringen.

Dazu Ohashi: „Nicht nur der Mensch, sondern auch alles, was ist, existiert zusammen mit den Anderen. Dabei bedeutet dieses Miteinander nicht immer eine friedliche Co-Existenz. Sowohl in der Naturwelt (siehe Virus von Fledermaus oder Schuppentier, TS) wie auch in der Geschichtswelt (siehe z.B. die Diskussionen hier in diesem Forum) gibt es in diesem Miteinander mehr oder weniger Konflikte und Gegensätze. Der Andere bzw. das Andere, mit dem ich bin, drängt sich mir in irgendeiner Weise auf, solange er (sie, es, TS) in seiner „Andersheit“ mir gegenüber auftaucht und sich als das zeigt, was nicht mein Ich ist. In der Richtung der Negativität dieses Nicht-Ichs wird die Andersheit der Anderen die Dimension der „Fremdheit“ entlarven, die nicht überbrückt werden kann. Dadurch befinde ich mich, indem ich mit allen Dingen zusammen bin, dennoch in einer absolut einsamen Isolation. Allerdings sind diese absolut fremden Anderen andererseits auch das, was meine Existenz unterstützt und umschließt. Ohne die Andren kann ich in keinem Augenblick sein. Insofern muss die absolute Negativität der Anderen für mich zugleich auch die absolute Positivität sein. Das Miteinander mit den Anderen setzt einerseits mein absolutes Geschieden-Sein von den Anderen voraus, aber andererseits auch die untrennbare Bindung und Verbindung mit diesen Anderen“(Ohashi, Compassion, S.23). Die neuen Bedingungen des Lebens unter Corona könnten dann auch unter dem Gesichtspunkt der Vergrößerung und Vertiefung  der Ferne gesehen werden, die den Anderen noch mehr zum Fremden macht, der dadurch zum Unheimlichen wird. Der Andere, der nicht in meine eigene heimische Welt hineinpasst, die ich in diesen „heimeligen“ Ostertagen mit meiner Frau alleine erfahre, wo sonst ein großen Familienfest mit Kindern und Freunden stattfand,   ist ausgeschlossen, weil er das Unheimliche hineinträgt, das Virus: das Heim, das Heimelige, das Heimliche wird durch den Fremden in Frage gestellt; er ruft das Unheimliche auf. In der Tiefe ist die Dynamik von Eigenem und Fremdem, von »wir« und »sie« stets mit Prozessen von Projektion und projektiver Identifizierung verbunden. Den Begriff des Unheimlichen nehme ich dabei aus einem Aufsatz von Sigmund Freud aus dem Jahre 1919: „Freuds Arbeit »Das Unheimliche« (1919h)“, schreibt Werner Bohleber, „hat uns gelehrt, uns nicht zu behaglich im Eigenen, Vertrauten und Heimatlichen einzurichten. Er arbeitet heraus, wie sich das Heimliche, heimelig Vertraute zu einer ambivalenten Bedeutung hin entwickelt hat, bis es mit seinem Gegensatz »unheimlich« zusammenfiel. Unter Rekurs auf Schelling benennt Freud das als unheimlich, was eigentlich im Verborgenen bleiben sollte, aber hervorgetreten ist. Deshalb ist das Unheimliche für ihn »wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist« (1919h, S. 254).“ (Werner Bohleber in der PSYCHE). Die Bedrohung durch den Anderen, durch den Fremden ist dadurch, dass er ein möglicher Todbringer sein könnte, äußerst gesteigert. Das Problem der Fremdheit nimmt unter Corona-Bedingungen eine exponentielle Steigerung: Der Fremde kommt als der Andere, der Fremde ist die Person gewordene Alterität, die Person gewordene, aber eben sehr gefährliche Andersheit.

(Ich erinnere daran, dass etymologisch „Virus“ Gift, Schleim, Saft, Schädling bedeutet – also Bezeichnungen enthält, die auf Abscheu und Ablehnung drängen. Auch in anderer Hinsicht vielleicht beachtenswert: Xenos = Gast bedeutete ursprünglich im Griechischen der Fremdling, der Unbekannte, der Ausländer im Gegensatz zum polites, dem Bürger des Landes. Wir leiten heutzutage den Begriff der Xenophobie daraus her: der Fremde, der zunächst einmal Angst und Abwehr auslöst. Auch im Lateinischen bedeutete hostis sowohl Feind als auch Fremder. Offensichtlich gibt es schon etymologisch und sprachlich eine Verwandtschaft zwischen Fremdheit und Feindseligkeit. Zu unterscheiden von Xenos ist des Weiteren der barbaros, derjenige Fremde, der aus einem anderen Kulturkreis kommt). Ich fand in diesem Kontext auch interessant, dass in Japan diese distanzierte Begegnungsweise ja schon seit Jahrtausenden so gestaltet ist: man verneigt sich höflich und im Abstand. Dazu muss man wissen, dass die Japaner*innen nur auf einem kleineren Teil ihrer Inseln leben, 60% der Landoberfläche sind weitestgehend unbewohnter Wald, es drängt sich alles an den Küsten. Und man könnte auch darauf hinweisen, dass Japan eines der xenophobesten Länder ist, die es gibt: es gibt kein Asylrecht in Japan, es gibt keine Aufnahme von Flüchtlingen, es gibt nicht mal Einbürgerungen von ausländischen Sportstars (mit Ausnahme einer kürzlichen Einbürgerung eines Rugbystars aus der Südsee).

Was sich also jetzt vielleicht grundlegend verändert, ist ein uraltes kulturelles Verständnis und eine entsprechende Alltagspraxis von Fernnähe. Da jede Ferne im Modus der Nähe, und jede Nähe im Modus der Ferne stattfindet, erleben wir vielleicht in diesen Tagen eine neue Regulation von Fernnähe, die unser Zusammenleben grundlegend verändern könnte. Das Heim und das Heimelige, das ja aber zugleich auch das Unheimliche in seinem unbewussten, sinnesvergessenen Schoß (sichtbar werdend z.B. an der Zunahme der häuslichen Gewalt in Quarantäne-Zeiten) enthält, wird zum Sicherheit versprechenden Rückzugsort der Abschottung und der Vergrößerung der Ferne.

Andererseits: Im Falle der Abwesenheit der geliebten Anderen wird unsere innere Nähe zu ihnen umso bedeutsamer und spürbarer. Ich denke hier an Winnicotts Fähigkeit zum Alleinsein im Eingedenken der inneren Nähe zu meinen Mitmenschen.  Und für uns – als Psychotherapeut*innen – ist Fernnähe sozusagen das Wasser, in dem unsere therapeutische Arbeit schwimmt, sich permanent verändert, entwickelt, aber eigentlich doch niemals Abschottung und Steigerung der Ferne bedeuten sollte, es sei denn, ich müsste die Andersheit meines Patienten erst noch begreifen und anerkennen. Dann ist Ferne ein notwendiger Vertiefungsvorgang für die „Höhentiefe“ (ein weiterer Begriff bei Ohashi) meines sich annähernden Verständnisse des Anderen. Die Ferne des Anderen wird allerdings auch noch gesteigert, ja führt geradezu zum Verschwinden des Anderen trotz seiner Anwesenheit, wenn wir Psychotherapie beispielsweise mit Atemschutzmaske betreiben würden. Wir wären füreinander nicht mehr erfahrbar, erkennbar, lesbar. Ich habe in der Supervision eine Analyse eines Menschen begleitet, der diagnostisch unter „schwerer narzisstischer Persönlichkeitsstörung“ lief: Seine Eltern setzten sich jedes Mal, wenn sie sich dem Säugling näherten, eine Atemschutzmaske auf, weil sie glaubten, (damals in den 60iger Jahren) den Säugling vor Ansteckungen bewahren zu müssen. Dieser Patient hat niemals gelernt, im Gesicht der Anderen zu lesen und war so zutiefst verloren in zwischenmenschlichen Begegnungen, die allesamt an der Regulation der Fernnähe scheiterten.

Es ist durchaus möglich, dass wir in einen Zustand ante coronam zurückgelangen. Der Mensch regrediert gerne bis zu dem Zustand, in dem er sich wieder gehalten und wohl fühlt. Sollte aber diese Regression nicht stattfinden, so wird es eine neue Regulation von Fernnähe geben müssen. Ich weiss aber natürlich nicht, wie diese aussehen wird. Ich vermute, dass wir vor allem ein neue Fernnähe zum Bedrohtsein, zur Verletzlichkeit und zu unserer Sterblichkeit gewinnen müssen, wenn in dieser Pandemie-Erfahrung ein Fortschritt der Geistigkeit des Menschen liegen sollte. „Indem wir diese Fernnähe des Todes ins Auge fassen, erreichen wir eine neue Dimension der Lehre  der Anderen“ (Ohashi, S.45). Indem der Tod und der Todbringer aus der Ferne (die Strecke Wuhan-Münster dauert mit dem Heissluftballon ungefähr 170 Stunden, ca. 8.500 Kilometer Luftlinie)  in unsere Nähe kommt, brauchen wir ein neues Miteinander mit dem Tod als dem gänzlich Anderen.

Kollegiale Grüße,

Thomas Schwind

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