Editiorial Heft 196 (2/2021)

Immer, wenn sich Psychoanalyse und Tiefenpsychologie Themen der Kunst zuwenden, ist es ein wenig so, als kämen sie gleichsam nach Hause. Hier finden sie sich unter ihresgleichen: Narrative unter Novellen, Deutungen unter Symbolen, Dialoge unter Dramen, Metaphern unter Bildern. Die psychoanalytischen Sichtweisen werden zwar von Künstlern und Kunstwissenschaftlern nicht durchgehend geteilt, doch das hermeneutische Naturell, das sich in ihnen artikuliert, kann zumindest mit ihrem Interesse rechnen. Auch muss die Psychoanalyse in Kunstangelegenheiten nicht (natur-)wissenschaftlicher tun als sie ist, sie kann bei ihrem Handwerk der Interpretation bleiben. Vor allem aber darf sie sich von den Künsten und der Ästhetik inspirieren lassen und damit aus einer Quelle schöpfen, von der sie sich von Beginn an nährt. Bekanntlich greift die Methode der freien Assoziation, die Freud zur Grundlage des psychoanalytischen Gesprächs machte, das Verfahren des automatischen Schreibens auf, das Ludwig Börne angehenden Schriftstellern empfahl. Auch C. G. Jung geht zunächst schreibend, im tagebuchartigen Protokollieren seiner Gedanken und Fantasien, an die seelische Selbsterkundung heran, bevor er seine eigene »Bohrtechnik«, die Aktive Imagination nebst bildnerischer Darstellung, entwickelt. Er kann dabei auf ein eigenes Talent und frühere Erfahrungen als Zeichner und Maler zurückgreifen. C. G. ­Carus, dessen psychologische Schriften er sehr schätzte und der selbst ein herausragender Maler romantischer Sujets war, mag ihm in dieser Doppelbegabung vor Augen gestanden haben. Interessanterweise finden wir bei mehreren ­Vertretern des Fachs dieses Zusammentreffen von psychologischer Profession und ­kreativ-künstlerischer Passion. Der Herausgeber des Roten Buches,
S. Shamdasani, schreibt: »Eine Reihe bedeutender Psychologen, wie etwa ­Alfred Binet und Charles Richet, verfassten oft unter Pseudonym, dramatische und erzählerische Werke, die die Themen ihrer wissenschaftlichen Arbeiten widerspiegelten. Gustav Fechner, einer der Begründer der Psychophysik und der experimentellen Psychologie, schrieb über das Seelenleben der Pflanzen und über die Erde als blauen Engel« (Shamdasani, 2009, S. 196). Für Jung selbst war in diesem Zusammenhang die Begegnung mit Théodore Flournoys Werk
Die Seherin von Genf (1914) bedeutsam, in dem das Verfahren des automatischen Schreibens zum Zauberstab wird, welcher Teilpersönlichkeiten des Autors sichtbar macht. Jung war von diesem Buch so angetan, dass er es ins Deutsche übertragen wollte (ebd.).
Doch zuallererst ist Jung ein Mann des Bildnerischen, wobei man einschränkend sagen muss: sofern es symbolisch ist. Dies ist in einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung der Stiftung der Werke C. G. Jung (2020) erneut zu besichtigen (Rezension von Volker Münch in diesem Heft). Erstmals werden hier sehr frühe Malereien Jungs gezeigt. Sie führen vor Augen, dass es bei Jung schon in der Jugend eine Empfindsamkeit für Naturfarbeindrücke gibt, die ihn zu malerischer Gestaltung drängt. Stilistisch orientiert er sich dabei an romantisch anmutenden, teils den Symbolismus seiner Zeit nachempfindenden Formen. Beste Voraussetzungen, sollte man meinen, für einen dauerhaften und fruchtbaren Austausch zwischen der Sphäre der Kunst und der Analytischen Psychologie. Doch das gilt wohl nicht uneingeschränkt. Den Höhepunkt der schöpferischen Verflechtung von Psychologie und ästhetischer Gestaltung bildet zweifellos Jungs Arbeit am Roten Buch, eigentlich ein Künstlerbuch, das man ohne Weiteres in den Zusammenhang des Aufbruchs der zeitgenössischen Kunst der Moderne stellen kann. Zürich war in jener Zeit ein Zentrum des aufblühenden Dadaismus und zwischen seinen Zirkeln und dem Psychologischen Club gab es personelle Überschneidungen. Ein nachhaltiger lebendiger Austausch entwickelte sich daraus dennoch nicht. Und das lag vermutlich auch an Jungs prägendem Einfluss. Jung stand der Kunst und Literatur seiner Zeit, also dem, was wir heute ­Klassische Moderne nennen, desinteressiert bis abwehrend gegenüber. Sie lagen nicht im Fokus seiner Aufmerksamkeit, die ganz darauf gerichtet war, sich in die Geschichtlichkeit des Psychischen zu vertiefen und darin ein psychisches und theoretisches Fundament zu finden. Demgegenüber wirken auf ihn die künstlerischen Experimente seiner Zeit, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bestenfalls wie kindische Angriffe auf eine kulturelle Tradition, die gerade der symbolische Träger desjenigen war, was er als das Tragende empfand: das Archetypische. Wenn man von Bion sagen kann, dass in seiner Sicht jeglicher Schönheit das Attribut der Wahrheit zukommt (Meltzer, 2006, S. 43), so kann man Jung wohl bescheinigen, dass für ihn Schönheit, insofern sie als etwas Numinoses erfahren wird, auf die Gegenwart des Archetypischen verweist. Es war somit im Grunde unvermeidlich, dass Jung, gedrängt, etwas zu Picasso und zu Joyce zu sagen (GW, Bd. 15), in die Register der Psychopathologisierung griff. Zumal das damals in psychoanalytischen Kreisen eine absolut geläufige Betrachtungsweise war. Als E. Jones bei Jung brieflich anfragt, ob denn der Züricher Dadaismus »eine psychotische Grundlage habe«, lautet Jungs Auskunft: »Er ist zu idiotisch für irgendeine anständige Verrücktheit« (zit. n. Erdheim, 1997, S. 201). Die Reaktion der Schweizer Kunst- und Kultur­szene auf Jungs Kommentare zu Picassos Werken fiel so harsch aus, dass er das gesamte Themenfeld fortan mied. Man kann vielleicht grob zusammenfassend sagen: Die Beziehung zwischen Kunst und jungianischer Psychologie beginnt recht verheißungsvoll und mündet dann rasch in nachhaltige Verstimmung.
Wenn wir mit dieser Ausgabe der Zeitschrift Analytische Psychologie eine Idee von Gustav Bovensiepen aufgreifen und den Schwerpunkt auf das Thema Kunst und Analytische Psychologie legen, möchten wir dazu anregen, dieser für unsere Profession so wichtigen Beziehung wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Sie ist wichtig im Hinblick auf die Bereicherung, die wir vonseiten der Kunst und Ästhetik für unsere therapeutische Arbeit erwarten können, wie auch hinsichtlich der Wirkung der Analytischen Psychologie nach außen in Richtung Kunst und Kunstwissenschaft. Das Heft versammelt Beiträge, die in beide Wirkungsfelder hineinspielen.
Am Beginn steht die Arbeit von Angelica Löwe: »Gewalt und Verlassenheit«. Ausgehend von theoretischen Überlegungen zu Jungs Gottesbild wendet sich die Autorin einer therapeutischen Situation zu, in der die Sinnlichkeit des Bildhaften, hier entzündet an Goyas Bild »Saturn«, und die Gedankenarbeit der Therapeutin einen Schlüsselmoment der Behandlung vorbereiten, der vor Augen führt, wie subtil die seelischen Prozesse im therapeutischen Paar miteinander verschränkt sind. Das Kunstwerk erscheint in dieser Studie gleichsam als Agent provocateur seelischer Wandlungsvorgänge.
Der Beitrag von Mark Winborn, »Das Abgründige im Erhabenen«, wendet sich dem Schaffen Francis Bacons zu und erprobt an herausragenden Werken dieses Künstlers, inwiefern etablierte analytische Konzepte wie die transzendente Funktion (Jung), die projektive Identifikation (Klein) und die Alpha-Funktion (Bion) sowohl den Entstehungsprozess wie die Rezeption der Werke zu erhellen vermögen. Dabei zeigt sich, wie wesensähnlich die Wirkungsweisen des analytischen Prozesses mit dem sind, was die Bilder Bacons dem Betrachter abverlangen. Die Arbeit ­Winborns demonstriert auf sinnfällige Weise, wie aus der psychoanalytischen Reflexion von Kunst eine Veranschaulichung therapeutischer Prozesse zu gewinnen ist.
Der Beitrag von Ralf Vogel, »Das Ganz-Andere: Die Gegensatzproblematik in der Analytischen Psychologie und ihre praktischen Implikationen«, liefert eine synoptische Darstellung der jungianischen Konzeptualisierung der »Zusammen­gehörigkeit des Einen mit dem Anderen«, das ja auch die jungianische Sicht auf die Kunst durchdringt. Der Autor sieht hier eine klare Differenz zum freudianischen Konfliktverständnis, das auf ein Entweder-Oder, auf Sieg oder Nieder­lage hinauslaufe, und beleuchtet die kollektiven gesellschaftlichen Implikationen, die diese jeweiligen Sichtweisen haben.
Mit Tonius Timmermann kommt ein erfahrener tiefenpsychologisch orientierter Musiktherapeut zu Wort, der in seinem Betrag Die akustische Dimension im ­Weltbild C. G. Jungs eine in der Analytischen Psychologie selten thematisierte Form therapeutischer Arbeit beleuchtet. Dabei wird deutlich, dass es bereits vielfältige spezifisch jungianische Forschungsansätze in Richtung Musik/Musik­therapie gibt und dass es an weitergehenden interessanten Fragestellungen nicht mangelt. Timmermann geht darüber hinaus der theoretischen Frage nach, ob es in der Musik Grundmuster gibt, die als archetypisch zu qualifizieren wären, und schildert die Anwendung des Konzepts des Schattens in der Musiktherapie an einem Fallbeispiel. Damit bietet der Autor eine instruktive Einführung in ein wichtiges psychologisch-ästhetisches Feld, dem Jung selbst, wie der Autor in einer schönen Episode schildert, überaus offen und neugierig gegenüberstand.
Die Arbeit von Lucienne Marguerat, »Das Mysterium künstlerischen Schaffens«, widmet sich zwei Geheimnissen, dem des kreativen Gestaltungsdrangs und dem der künstlerischen Wirkung. Beide haben Jung bekanntlich beschäftigt und die Autorin zeigt, wie seine Ideen von Erich Neumann aufgegriffen und weiter­gedacht wurden. Für Lucienne Marguerat ist dabei Jungs Reaktion auf die Kunst der ­Moderne, die er in seinen Beiträgen zu Picasso und Joyce artikulierte, ebenso Anstoß zum Nachdenken wie für Paul Brutsche. In seinem Artikel »Zum Befremdlichen in der heutigen Kunst« setzt er sich mit der Kontinuität der Präsenz des Fremdartigen in der Kunst auseinander, die bei Jung unter der Chiffre des psychopathologisch Auffälligen auftaucht, und findet dieses Andere, Fremde schließlich auch im schöpferischen Prozess selbst wieder – als das Auftauchen des Neuen. Der Artikel von Paul Brutsche kam erstmals 1992 in der Zeitschrift Gorgo heraus, erschien uns aber in seinen vielfältigen Bezügen zu den Arbeiten von M. Winborn und L. Marguerat so aktuell, dass wir ihn gern in Erinnerung bringen.
Mit dem Beitrag »Die Begegnung im Bild« von Doris Titze, einer Künstlerin und Kunsttherapeutin, kommt eine Perspektive ins Spiel, die in einem Themenheft zur Kunst nicht fehlen darf. Die Autorin beschreibt hier überblicksartig das praktische Vorgehen in der Methode der Formanalytischen Kunsttherapie, die sie an der Kunsthochschule Dresden lehrt. In einem zweiten Abschnitt schildert sie die Beziehungen zwischen therapeutischem und kreativem Prozess, so wie sie sie in ihrer eigenen künstlerischen Arbeit erlebt.
In unserer Rubrik Denkbild lässt Sylvia Runkel Tiepolos »Apelles und ­Campaspe« auf sich wirken und kommt dabei auf Überlegungen und Fragen, in denen sich viele der Gedankenlinien anderer Autoren dieses Heftes kreuzen.
Das Thema Kunst und Analytische Psychologie drängt von sich aus nach einer feuilletonistischen Heftform. Deshalb freuen wir uns, dass es auch zwei Interviews enthält. Das Gespräch, das Angelica Löwe mit Roman Lesmeister führte, nimmt bei einem Rundgang durch die Hamburger Kunsthalle seinen Ausgang und mündet schließlich in ein sehr persönliches gedankenreiches Porträt. Und ihr Gespräch mit der in Berlin lebenden Pianistin und Komponistin Katia Tchemberdji gibt einen lebendigen Einblick in die Erfahrungswelt des Kompositionsprozesses.
Das Heft wird abgerundet mit dem 2. Teil des Werkstattberichts von Antje Barber und Günter Langwieler, einem Diskussionsbeitrag von Paul Brutsche zu Isabelle Meiers Artikel »Manualisierung – ein Reizwort« (Heft 195) sowie einem kurzen Porträt des ARAS-Archivs, einer jungianischen Bilderdatenbank, auf die wir gern aufmerksam machen wollen.

Stefan Wolf, Berlin

Literatur

Erdheim, M., Blaser, A. (1997). Malend das Unbewußte erkunden. In G. Magnaguagno & J. Steiner (Hrsg.), Arnold Böcklin, Giorgio de Cirico, Max Ernst. Eine Reise ins Ungewisse (194–202). Katalog Kunsthaus Zürich.
Jung, C. G. (1932). Picasso. In Gesammelte Werke Bd. 15 (151–158). Solothurn und Düsseldorf: Walter.
Jung, C. G. (2020). Bilder des Unbewussten. Gestaltungen, Zeichnungen und Skulpturen. Hrsg. v. der Stiftung von C. G. Jung. Ostfildern: Patmos.
Meltzer, D., M. H. Williams (2006). Die Wahrnehmung von Schönheit. Der ästhetische Konflikt in Entwicklung und Kunst. Tübingen: edition diskord.
Shamdasani, S. (2009). Liber Novus. Das »Rote Buch« von C. G. Jung. In S. Shamdasani (Hrsg.), Das Rote Buch (195–224). Zürich: Patmos