Von Michael Péus, Einsiedeln.
„Wo von vielen etwas getan werden soll und niemand eigentlich weiß, worum es sich handelt und wohin es geht, und jeder ratlos ist, was er wollen soll, entfaltet sich die Verschleierung der Ohnmacht.“ (Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, 1932/1979, S. 69/70)
Verschleierung der Ohnmacht – 1932 war es die Beschämung über den verlorenen Krieg, die noch im „Volkskörper“ schwärende Wunde der Ohnmacht mit ihrer schweren emotionalen Aura von Schuld, verlorener Selbstachtung und sprachloser Trauer. Und wir wissen, was in dem Jahr geschah, welches diesen Sätzen von Jaspers folgte – Ermächtigung! Und es jagt Schauer über den Rücken, wie ungemein treffend Jaspers‘ Worte – und seine gesamte Analyse – die „geistige Situation“ dieser unserer Zeit beschreiben. An welchem Vorabend stehen wir, welche Machtergreifung erwartet uns? Welche Ohnmacht verbirgt sich heute unter dem Schleier?
Es ist die Ohnmacht, zuzusehen, wie die Welt, wie wir sie kannten, auseinanderfällt. „Lasst uns erst einmal zusehen“, hieß es in den Jahren der ersten Warnungen, und: „lasst uns noch genauer analysieren“, als die Warnungen dringlicher und durch Ereignisse bestätigt wurden. „Wir müssen erst noch mehr wissen“, hieß es dann noch bis vor kurzer Zeit.
Jetzt sehen wir nur noch zu, gebannt, meist vor Bildschirmen, unfähig, das Zusehen sein zu lassen, obwohl wir auf nichts mehr warten müssen als darauf, weiterem noch Schlimmerem zuzusehen.
Und zusehend arbeiten wir gedanklich mit Hochdruck und entgrenzter Phantasie daran, die Ohnmacht unseres Zusehens in einen schuld- und schamlosen Opferstatus umzudeuten, der sich nur durch die mythische Konstruktion einer Täterschaft legitimieren kann, welche gerade vermöge ihrer totalen Unsichtbarkeit, ihres totalen Verschleiertseins – und daher von uns Zusehenden ungesehen – grenzenlose Macht entfaltet und „zu allem fähig“ ist. Auf der Basis gesicherten Opferseins sind dann Ohnmacht, Scham, Schuld einer optischen Kippfigur ähnlich umkippbar in das Machtgefühl und die Genugtuung selbst gewährter und gewählter voyeuristischer Passivität, in das selbst geschenkte Privileg, es einfach sein zu lassen, nichts mehr zu müssen und ohne Zutun, ohne Entscheidungsnot, ohne Handlungszwang und Verantwortungsdruck doch Teil von etwas Großem zu sein, das gerade – für oder gegen uns – geschieht (vgl. Hillman/Ventura, S. 55 ff.). Dieses Große hat dann entfernte Ähnlichkeit mit den Olympischen Spielen. Es ist global, es verbindet uns alle, wir sind nicht allein. Und so groß es ist, es passt auf den kleinsten Bildschirm, solange er funktioniert. Die, die es schon immer „wussten“, nennen es Endzeit. Und viele von uns wundern sich über sich selbst, dass sie an diesem unsäglichen Begriff plötzlich ein geheimes Gefallen finden.
Die, denen diese Umdeutung nicht gelingt, schalten die Bildschirme ab, weil sie „es“ nicht mehr sehen können, versinken in die Sprachlosigkeit, besiegt von der Gleich-Gültigkeit, die für das Unvernünftige den gleichen Rang beansprucht wie für das Vernünftige, für das Unglaubliche denselben oder gar – credo quia absurdum – den höheren Rang als für das Glaubhafte. Wenn die gewohnten Bedingungen für rationale Entscheidungsfindung anhaltend außer Kraft gesetzt sind, implodiert, zerspringt das unvereinbar kollidierende Gleich-Gültige hinein in eine diffundierende, isolierende und bodenlose Gleichgültigkeit, die als Dumpfheit und Leere immer noch besser erträglich scheint denn als hypervigile Panik vor weiterer katastrophischer Eskalation.
Endlich Endzeit – so beginnt auch die Sprache ihre Spiele, ihre globalen Wettkämpfe um die Kontrolle der Ohnmacht. Ein kleiner Wortwitz, ein kleiner Schleier der Ohnmacht, ein Trick mentaler Ermächtigung.
Die Pathologien der Ohnmacht sind Sprachspiele von tiefstem Ernst. Es sind Spiele, von denen alles abhängt. Alles hängt an derart dünnem Faden, nämlich an dem Impuls, wie ich je Sprache verwende, meine Worte wähle. Diesen Impuls würde Jung, wenn er seinen Fokus mehr auf die Sprache gelegt hätte, das Zünglein an der Waage nennen. Es bewegt sich auf dem Grat zwischen
Verharmlosung einerseits und Dramatisierung andererseits, zwischen Distanzierung und forcierter Identifizierung, zwischen Ironie oder Galgenhumor hier und düsterstem Ernst dort, zwischen resignativer oder gewissenloser Gleichgültigkeit und Unbetroffenheit heute und „Jüngstem Gericht“ morgen, Hass-Stürmen eines gottgleich wütenden anonymen Kollektivs, fanatischer Aug‘-um-Auge-Ahndung, lähmender Erwartung ewiger Verdammnis oder sozialen Todes für ein falsches Wort, ein falsches Iota, für sündige und inkorrekte Gedanken.
Beide Extreme sind korrelative Instrumente der Verschleierung.
Philosophisch sind es – das hält auch Jaspers als wesentlich fest – die zentralen Sprach-Werkzeuge der Sophistik, der Pseudo-Sophia, dieser gefährlichen Sprachspielerei, gegen welche Platon bereits mit Dialogik, Maieutik und wahrer Sophia zu Felde zog. (Jaspers, S. 69)
In der Sophistik verzerren sie Wahrheit bzw. Weisheit, verschleiern ein Wissen, nämlich das Wissen des Nichtwissens, das einzige Wissen, das zum Denken und Weiterdenken einlädt, dazu nötigt, es überhaupt ermöglicht – während die Formen der Verschleierung zwar erdacht, aber nicht gedacht sind. Sie zeigen Endzeit an für das Denken.
Verschleierung von Nichtwissen ist Verschleierung von Ohnmacht, sofern wir in unserer Kultur Wissen mit Macht verbinden. Und gerade darum ist Nichtwissen das bevorzugte und gefährlichste Objekt von Verschleierung.
Und wenn Jung in seinen Erinnerungen bekennt: „Aber es entfällt mir der Mut, jene Sprache zu suchen, welche die unabsehbaren Paradoxien der Liebe adäquat auszudrücken vermöchte“ (Jaffé, S. 356), dann werden wir hellhörig: Was ist mit der Sprache geschehen, dass Jung der Mut zu einer liebesnahen Sprache nicht einfach fehlte, sondern ihm entfiel. „Es entfällt mir der Mut“ klingt wie ein ständig sich ereignendes Vergessen. Warum fällt sie (ihm) nicht ein, immer neu, die Sprache der Liebe als Sprache der Paradoxien? Hängt es zusammen damit, dass sie eine nicht-verschleiernde Sprache wäre, exponierend und exponiert, ein Sprechen im bewussten und eingestandenen Gestus der Ohnmacht, der wiedererinnernden Offenlegung des Widersprüchlichen, Mehrdeutigen, nur Annähernden, des Nichtwissens? Wen und was müssten wir – so sprechend – fürchten?
Fürchten müssten wir Attacken, die von der verschleiernden Sprache ausgehen. Denn die Sprachformen sophistischer Verschleierung schützen vor sich selbst, vor ihren eigenen zerstörerischen Rückkopplungen. So befinden wir uns in einem Teufelskreis, einem diabolischen Zirkel, diabolisch, weil dieser Zirkel mit einer Zentrifuge zu vergleichen ist, einer Flucht vor der Mitte, einer Dynamik, die alles ursprünglich Verbundene und Verbindende „auseinanderwirft“ (dia-ballein), spaltet, atomisiert. Jung sprach als Wissenschaftler von Dissoziation, und als für deren heilsamen Gegensatz kämpfte er – wie Platon um die Möglichkeit des Logos (als das Sammelnde, Zusammenlesende) – verzweifelt um das „Sym-bolische“ und wurde über Jahrzehnte nicht müde, den bereits erfolgten Verlust des vereinigenden, verbindenden, zusammenhaltenden Einen zu beklagen und anzuprangern.
Das Fehlende taucht in einer Sprache der Verschleierung weder formal noch inhaltlich auf – im Gegenteil sorgt diese Sprache ja gerade für sein und ihr Vergessen. So ist die liebesnahe Sprache schließlich selbst das Fehlende, das sich im Ständig-über-etwas-Reden- und -Schreiben verbirgt. Und der Hunger, den dieses Fehlen ungestillt lässt, richtet sich auf anderes, vor allem auf Bilder. Er verschlingt sie und das, was sie darstellen. Das kann wiederum alles sein und ist doch allzu oft das symbolisch Eine, Reine, noch Hilflose, aber potentiell Neue, Erlösende: das ohnmächtige Kind, an dem sich machtvoll und gewalttätig für die nur Zusehenden vergangen wird. Und diese Macht über das Ohnmächtige kommt ohne Sprache aus, sie ist und lässt uns, sobald wir den Schleier des Unaussprechlichen lüften, sprachlos. So wie nach dem letzten großen Krieg, als nicht wenige wache Menschen weiteres Sprechen in der Sprache diabolischer Verschleierung, einer Sprache, die innerlich noch als Nachhall von Schiess- und Vernichtungsbefehlen zu vernehmen war, als unmöglich empfanden.
Es ist diese Endzeit der Sprache, die Jung fürchtete, als er an den Abgrund zwischen dem Glauben an das fleischgewordene Wort und der irrationalen infektiösen Wortgläubigkeit der Massen gemahnte (Jung, 1957) und andernorts alarmierend auf die Gefahr des Endes des „Prozesses“ als des ungehinderten Fließens in die Zukunft hinwies (vgl. Jung, 1927 und 1946).
Sprache wird nie ein gesicherter, umfassend gerechter, keimfreier, paradiesischer Ort sein, kein Paradeplatz korrekt ausgerichteter und markierter Eineindeutigkeiten. Die Spiele der Sprache brauchen Freiheit. Zwei- und mehrdeutig – um überhaupt bedeutungsvoll zu sein -, wird sie nie und nimmer der safe place sein, als den wir sie ersehnen, nie ein Therapeutikum oder Präventivum gegen mögliche Kränkungen und Verletzungen, nie ein Produkt sprachbehördlicher und sprachlaboratorischer Analysen therapeutischer Wirkungsspektren und deren Zertifizierung.
Sprache könnte aber das Verbindende, Haltende, Nährende sein, wenn sie sich, wenn wir sie mit unserer Ohnmacht zu verbinden und verbünden wagten, wenn sich in ihr als „Mutter Sprache“ – die, die uns in unseren vielen „Zungen reden“ lässt – Ohnmacht, Scham, Trauer, Zweifel aus-tragen ließen. Dann könnte sie sich auch mit uns verbünden, den zahllosen kleinen „Zünglein an der Waage“. Denn sie, die Sprache, ist immer schon in unser aller Munde. – „Oralität“ könnte wieder für Mund-Lust stehen, die sich (vor)lesend, im Gespräch, im Denken als innerem Hören und Sprechen, im inneren Dialog oder als stilles Verkosten des Wortes bekundet. Und dann darf es auch einmal – oder lieber immer wieder – „frei von der Leber weg“, „Herz ausschüttend“, „Kropf leerend“, aber auch feierlich, eindringlich, erhebend, betörend und beschwörend, bestimmend und bekennend, anspruchsvoll und nicht zuletzt auch sehr „lustig“ sein. Tränen können auch gelacht werden – und wenn ein Wortwitz ein Schmunzeln oder gar ein Lachen in uns weckt, dann spielt die Sprache, dann tanzt sie ohne Schleier.
Literatur:
Hillman, J., Ventura, M. (1999): Hundert Jahre Psychotherapie und der Welt geht’s immer schlechter. Zürich und Düsseldorf: Walter
Jaffé, A., Hrsg. (1975). Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Zürich: Ex Libris
Jaspers, K. (1932/1979). Die geistige Situation der Zeit. Berlin, New York: de Gruyter
Jung, C.G. (1927/1995). Psychotherapie und Weltanschauung. In Gesammelte Werke, Bd. 16 (6-93) Düsseldorf: Walter
Jung, C.G. (1946/1995). Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen. In Gesammelte Werke, Bd. 8 (183-262). Düsseldorf: Walter
Jung, C.G. (1957/1995). Gegenwart und Zukunft. In Gesammelte Werke, Bd. 10 (275-336). Düsseldorf: Walter