Editorial Heft 190 (2/2018)

Man kann beobachten, dass der Begriff des Geistes, im psychoanalytischen Diskurs gebraucht, nicht selten eine gewisse Verlegenheit erzeugt. Man reagiert auf den Begriff mit distanziertem Respekt, weiß aber im Grunde nicht so recht etwas mit ihm anzufangen. »Geist« ist kein ausgewiesener Terminus der psychoanalytischen Metapsychologie, jedenfalls nicht der auf Freud zurückgehenden, und so kommt es, dass Psychoanalytiker sich mit und bei diesem Begriff nicht zu Hause fühlen. Ihr Zuhause ist – naturgemäß – die Psyche oder die Seele, wobei man aber sofort hinzufügen muss, dass die auf eine große geistesgeschichtliche Tradition zurückverweisenden Namen vorwiegend als Metaphern verstanden und dort, wo es geht, vermieden oder ersetzt werden durch die Adjektive »psychisch« oder »seelisch«, so als wollte man keinesfalls eine allzu buchstäblich genommene und substanzhafte Vorstellung von Psyche oder Seele aufkommen lassen. Am unverfänglichsten klingt die Rede von der »psychischen Realität«, womit man erkennen lässt, es immerhin noch mit etwas Wirklichem zu tun zu haben. Der Vorbehalt gegenüber »Geist« steht in einem gewissen Kontrast zu Freuds emphatischem Wort vom »Fortschritt in der Geistigkeit«, den wir seiner Überzeugung nach dem jüdischen Monotheismus verdanken, und den er sich auch als treibende Kraft für die psychoanalytisch inspirierte Emanzipation des Ichs von seinen inneren und äußeren Abhängigkeiten gewünscht hat. Weit entfernt von metaphysischen oder spirituellen Referenzen hat Freud allerdings nie einen Zweifel daran gelassen, dass er unter Geist nichts anderes als den nüchternen Intellekt versteht, jenen bildlosen analytischen Intellekt, dessen Stimme zwar »leise« ist, sich auf lange Sicht, so die Hoffnung, dem triebgeleiteten Irrationalismus aber überlegen erweist.Die Übersetzung des Geistes als Intellekt hat in der psychoanalytischen ­Theoriebildung ganz konsequent zur Beheimatung des Geistes im Denken geführt, was einer Operationalisierung des Begriffs gleichkommt. Geist manifestiert sich demnach als rationales Denken und nirgendwo sonst. Er manifestiert sich als Ich-Funktion. Die moderne Psychoanalyse verfügt heute über respektable Theorien des Denkens und damit über ein ichpsychologisches Forschungsfeld, das lange Zeit neben Trieben, Affekten und Objektbeziehungen als psychoanalytisch vernachlässigt und unerschlossen galt. Wenden wir uns den Geist-Verhältnissen im eigenen Hause der analytischen Psychologie C. G. Jungs zu, was hier nur in groben Umrissen geschehen kann. Ich glaube, man begeht keine übertriebene Vereinfachung, wenn man das von Freuds rationalistischer Auffassung radikal abweichende Geistverständnis Jungs für eine maßgebliche Ursache der Entfremdung hält, die sich zwischen den beiden Gründervätern nicht erst irgendwann vollzogen hat, sondern von Beginn angelegt war. Und ich wage an dieser Stelle die Vermutung, dass es ein oft nur undeutlich erahnter, aber irgendwie weiter gefasster Begriff des Geistigen ist, der die Analytische Psychologie für Aspiranten unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichster Interessen auch heute noch attraktiv macht.
Jedenfalls konnte Jung Freuds Auslegung des Geistes als Intellekt nur für eine bedauerliche Schrumpfform eben dieses Geistes halten. Sein eigener Begriff vom Geist steht dagegen unzweifelhaft in der Kontinuität der bedeutenden philosophisch-metaphysischen, religiösen und mystischen Lehren, die in Jahrtausenden west-östlicher Kulturentwicklung einander abgelöst und durchdrungen haben. Dementsprechend komplex und eklektizistisch fällt seine über das Werk verstreute Begrifflichkeit aus. Suchen wir nach einem Gemeinsamen der vielen Namen, dann finden wir, dass Jung an einer Vorstellung von objektivem und autonomem Geist festhält, die den meisten seiner aufgeklärten Zeitgenossen bereits als reichlich antiquiert erscheinen musste. Geist ist für Jung eine transzendente Wirklichkeit, die in den Phänomenen waltet und sich in diesen ausdrückt. Das zentrale theoretische Konzept seiner Psychologie, der Archetypus, repräsentiert eine universale geistige Struktur, von der er annimmt, dass sie alle Seins-Bereiche bis in die Materie hinein durchdringt. Auch die sexuelle Libido, so erläutert er in seinen gegen die Freud’sche Sexualtheorie gerichteten Schriften, sei nichts anderes als eine Erscheinungsform des göttlichen und vielgestaltiger Wandlung fähigen Pneumas. Das Geistige des Archetypus erscheint in der Psyche als seelisches Phänomen, und das heißt vorzugsweise als (archetypisches) Bild. Eine Formulierung wie die, die den Titel des Bandes XV der Gesammelten Werke abgibt: »Über das Phänomen des Geistes in Kunst und Wissenschaft« muss man daher so gut wie wörtlich nehmen. Der Geist, an sich transzendent und unerkennbar, betritt den seelischen Raum in imaginaler Einkleidung, als »Geist Mercurius«, als »Alter Weiser« und in ähnlichen Gestaltungen. Für Jung ist und bleibt die Seele die Domäne der Psychologie. Aber es geht ihm darum, den geistigen Gehalt der seelischen Phänomene, den Jung auch das Symbolische nennt, das verborgene oder auch offenbare Enthalten-Sein des Geistes in der Seele zu erschließen. Dass sich das Geistige, mithin die Idee oder der Gedanke, unter der psychologischen Brille zunächst einmal als psychisches Phänomen und nichts anderes darstellt, ist, um diesen kritischen Aspekt nicht auszulassen, keine unproblematische Annahme. Sie hat Jung nicht ganz ungerechtfertigter Weise den Vorwurf des Panpsychismus eingebracht.

Das vorliegende Heft mit dem Titel Geistes Gegenwart widmet sich der Frage der Bestimmung und Verortung des Geistigen innerhalb der Diskurse von Psychoanalyse und Analytischer Psychologie. Die Reihe der Beiträge, die sich explizit mit der Thematik des Geistes und dessen Verhältnis zur seelischen Realität befassen, wird eröffnet mit Wolfgang Giegerichs Arbeit »Geist und Seele – C. G. Jung und die psychologische Differenz«. Giegerich, der vielleicht profilierteste Vertreter einer eng an Jungs Werk angelehnten archetypischen Psycho­logie, postuliert eine psychologische Differenz, die zwischen dem »Psychischen« und dem »Psychologischen« besteht. Während das »Psychische« das positiv-faktisch Gegebene der psychischen Vorgänge im Kontext persönlichen Erlebens und persönlicher Geschichte umfasst, beginnt das »Psychologische« und damit die Wissenschaft von der Seele erst dort, wo die Phänomene als solche und das heißt herausgelöst aus personalistischen Bedeutungszusammenhängen ernst­genommen und gemäß ihrer inhärenten Logik erfasst werden. Geist als ein Nicht-Seiendes entsteht dann erst im Zuge eines Prozesses absoluter Negation
des sinnenfällig Gegebenen, was in der alchemistischen Metapher der »Ver­dampfung« seinen Ausdruck findet und von Ferne an Freuds Begriff der Sub­limierung erinnert. Sich von Giegerichs logoszentrierter »Animus-Psychologie« absetzend, entwirft Dieter Treu in »Was ist ein Bild – Und was ist ein Gedanke?« das Projekt einer »Anima-Psychologie«, die sich in besonderem Maße der archetypischen Betrachtungsweise James Hillmans verpflichtet fühlt, dessen Ansatz er aber um eine dialektische Bezogenheit auf seinen »Gegensatz« erweitert. Treu plädiert für die Rückgewinnung der Phänomene in ihrer welthaften Bildlichkeit, ohne sie (wie Jung) auf den seelischen Innenraum zu begrenzen, aber auch ohne sie (wie ­Giegerich und auch Hillman) allzu sehr von der personal-lebensweltlichen Sphäre und damit vom Leiden des Subjektes abzutrennen. Damit gelingt es ihm, den unmittelbaren Zugang zum Feld klinischer Praxis offen zu halten.
Paul Bishop kontrastiert in seinem Beitrag »Dithyrambisches Denken und transzendentaler Pantheismus bei C. G. Jung und Ludwig Klages« zwei psycho­logische Denker, die in erheblichem Maße Inspirationen aus der Philosophie des Vorsokratikers Heraklit bezogen haben. Der Lebensphilosoph Klages gelangt zu dem Schluss, dass die intime psychosomatische Einheit von Seele und Körper vom Geist, der wie ein von außen kommender Keil dazwischenfahre, aufgetrennt und zerstört werde, worin sich der Geist als »Widersacher der Seele« erweise. Der Geist erscheint hier als das übermäßig »Feurige«, das sich als Fremdes und Anderes in einen Gegensatz zum »Wässrigen« der Seele setze. Bishop erkennt in Jungs Heraklit-Rezeption dagegen den Versuch, Seele und Geist in einer gegensatzüberbrückenden Verbundenheit zu denken, mithin »Feuriges« und »Wässriges« in einen Ausgleich zu bringen. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme liest Jungs Schrift Psychologische Typen (1921) mit dem Blick des geisteswissenschaftlich und ­methodologisch versierten Forschers, was es ihm nicht schwer macht, vor allem die von Jung postulierte Nähe seines typologischen Entwurfs zu Friedrichs ­Schillers Ideen in den »Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen« (1795) mit einigen kritischen Fragen zu versehen. In seiner Replik zu Böhmes Beitrag »Die psychologischen Typen bei Friedrich Schiller und C. G. Jung« hebt Volker Hansen (»Schiller und Jung«) hervor, dass Böhmes Einwände zwar für die Typologie als statisches Ordnungsschema zuträfen, der Autor aber dabei die dynamisch-therapeutische Funktion der Typentheorie übersehe. Im »therapeutisch-schöpferischem Weg«, der mit Hilfe der Typenlehre zu gehen sei, ließe sich dann doch wieder eine Parallele zu Schillers »pädagogisch-schöpferischem Weg« ­erkennen.
Nach einer Filmbesprechung von Stefan Wolf (»Was die Augen wissen«) und Reflexionen von Konstantin Rößler zu einem »Denkbild« des Malers Jean-Honoré Fragonard folgen vier weitere Beiträge, die aus unterschiedlicher Distanz und Perspektive die Leitthematik von Geist und Seele umkreisen. Die französische Jungianerin Ève Pilyser-Oms legt eine psychodynamische Deutung des bekannten Andersen-Märchens »Die kleine Meerjungfrau« vor, in der sie die Weiblichkeitsentwicklung unter den Bedingungen einer destruktiven mütterlichen Objektwelt und eines traumatisch angelegten und nicht auflösbaren Ödipuskomplexes untersucht. Die genitale Reifung und »Menschwerdung« der Meerjungfrau scheitern an einem »tödlich nährenden Pakt« mit der negativen Mutter. Und sie scheitern, so kann man interpretieren, am Fehlen einer Instanz triangulierender Geistigkeit, mit deren Hilfe eine rein naturhafte Bindung »negiert« werden könnte. Gustav Bovensiepen wirft in »Was habt Ihr, was wir noch nicht haben?« die Frage auf, woran es den gegenwärtigen Strömungen freudianisch orientierter Psychoanalyse im Vergleich zur Analytischen Psychologie hinsichtlich ihrer maßgeblichen theoretischen und klinischen Errungenschaften wohl mangeln könnte. Während sich auf zahlreichen Gebieten konzeptuelle Gemeinsamkeiten und ein Verhältnis auf Augenhöhe konstatieren ließen – auch wenn dies auf psychoanalytischer Seite mangels Kenntnis der jungianischen Tradition oft nicht zur Kenntnis genommen werde –, seien es im Besonderen die Begriffe von Selbst, Individuation und Geist/Spiritualität, die das Potenzial der Analytischen Psychologie auszeichneten. Zu einer vergleichbar positiven Bilanz gelangt Günter Langwielers Arbeit über »Jungs Neurosenlehre zwischen Dissoziation und Imagination«, in der der Autor die konzeptionelle Originalität und Eigenständigkeit der Jung’schen Krankheitslehre herausstellt. Gerade das aus der französischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts übernommene Konzept der Dissoziation sei geeignet, neurotische und strukturell bedingte Störungsbilder miteinander zu verbinden und zu einer einheitlichen Ätiologie wie Therapeutik seelischer Pathologie beizutragen. Den Abschluss der Reihe der in diesem Heft versammelten Originalbeiträge bildet die Arbeit »Archetyp und Spiritualität« von David Stötzner. Seine vergleichende Gegenüberstellung zentraler Konzepte der Analytischen Psychologie und solcher der Transpersonalen bzw. Integralen Theorie von Ken Wilber rückt noch einmal die Geistthematik in den Mittelpunkt der Diskussion. Kennzeichnend für das Gegensatz- wie mögliche Befruchtungsverhältnis beider Richtungen sei an dieser Stelle lediglich die »Prä-/Trans-Verwechslung« herausgegriffen, die Wilber gegen Jungs Geist- und Archetypentheorie ins Felde führt. Da Jung sich stets auch als evolutionsbiologischen Denker verstanden hat, erklärt er, wie bekannt, die Entstehung der Archetypen aus dem Prozess der Evolution, das heißt als »Niederschlag« menschlicher Erfahrungen im Zuge der gesamtmenschheitlichen Entwicklung. Vom transpersonalen Standpunkt erkennt Wilber darin ein entscheidendes Missverständnis. Denn die Archetypen, die geistigen Urbilder des Seienden, entstünden nicht als Produkte der Evolution, vielmehr gingen sie dieser voraus. Die Archetypen selbst seien Emanationen des Absoluten, des ununterschiedenen und die Gegensätze enthaltenden Einen. Zum Ende des Heftes findet der Leser ein ausführliches Gespräch, das ­Alexander Behringer und Barbara Beyland mit unserem Berliner Kollegen Kurt Höhfeld anlässlich dessen 80. Geburtstages geführt haben. Ein Nachruf auf Theodor Seifert, Tagungsberichte und Buchrezensionen bilden den Abschluss.

Nicht zuletzt sei auf eine Veränderung in der Zusammensetzung unserer Redaktion hingewiesen. Wir freuen uns, dass wir mit Anja Weisel (Köln), Jens Preil (Berlin) und Dieter Treu (Berlin) drei engagierte jüngere Mitglieder gewinnen konnten.

Roman Lesmeister, Hamburg