Das Gesicht im therapeutischen Raum

Dieter Treu, Berlin, 1.6. 2021.

Vor einem Jahr habe ich mich an dieser Stelle mitgeteilt, zu meinen ersten Erfahrungen mit Psychotherapie und Psychoanalyse in Form von Telefonsitzungen. Wie ist es weiter gegangen?

Ab dem Frühsommer 2020 habe ich wieder mit Präsenzsitzungen begonnen, und der Maske den Vorzug vor dem Telefon und vor allem vor der Videotelefonie gegeben. Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen habe ich den Patienten dabei angeboten, am Platz ihre Maske abzunehmen. Alle haben davon Gebrauch gemacht.

Jene Patienten, mit denen ich erst während der Pandemie zu arbeiten begonnen hatte, lernten hingegen mich das gesamte letzte Jahr über als wahrhaft schafsgesichtigen Therapeuten kennen, als eine Person ohne jede Ausdrucksmöglichkeit im unteren Gesichtsbereich. Ein halbes Gespenst. Die Arbeit mit meinen Gegenübertragungswiderständen unter der Maske („gut, dass ich die plötzliche Anspannung rund um meinen Mund gerade nur für mich habe, damit nicht sichtbar bin“) waren für mich hilfreich um zu merken, für welche Patienten meine Maske eine schwer artikulierbare Überforderung und Zumutung darstellte.

Nun bin ich seit einigen Wochen durchgeimpft. Neuerdings arbeite ich ohne Maske. Ich beginne wieder beziehungsweise erstmals den Patienten Gesicht zu zeigen. Einige Patienten sprechen von einer „Erleichterung.“ Mir ist diese vermeintliche Rückkehr wie auch meine eigenen Erfahrungen damit noch wenig greifbar. In manchen Sitzungen merke ich das Grimassieren meiner Lippen. Soll mein Mund Anlass zum Gespräch darüber sein, dass es sich gerade wie eine Entblößung anfühlt? Ich übe noch, wieder da zu sein mit Mund und Kinn, mit ganzem Gesicht.  

Gesichter – mein eigenes und die der Patienten – hatten vor der Pandemie recht wenig Raum, das kann ich so jetzt sagen. „Analyse treiben“ – das war, auf der Ebene des Körpers und der Sinnlichkeit, für mich vor allem an die Ermöglichung von Blickrichtungen gebunden, denen folgend beide Beteiligten „das Dritte sehen“ konnten. De facto wurde und wird dann zum Fenster oder an die Wand geguckt; so geht das Nach-innen-Sehen für mich am besten.

Wie spielt das Gesicht von Therapeut und Patient hinein in den analytischen Prozess?

Damit meine ich jetzt nicht, einem Blick nachzugehen, oder einer in Falten gelegten Stirn oder einem zitternden Mund, oder der in der Analyse viel beachteten Stimme hinterher zu spüren. Etwas in Gesichtern der Patienten zu suchen oder auch in meinem eigenen Gesicht zu spüren ist mir vertraut. Ich halte dieses ‚Verfolgen‘ für therapeutisch hochbedeutsam, aber zu ihm gehört ein Loslassen und sekundärprozesshaftes Zergliedern der Einheit der Wahrnehmungssituation, zugunsten einer gedanklichen oder gefühlshaften Erforschung.   

Der Schweizer Kulturphilosoph und Arzt Max Picard (*1888-†1965) hat von einem Leitgesicht gesprochen. Damit hat er einen Begriff ins Spiel gebracht, der sich diskursiv nicht gut zuordnen lässt, unter anderem an den Grenzen von Psychoanalyse und spiritueller Sinnsuche changiert. Das Leitgesicht lässt auch an Jungs Vorstellung von Individuation denken. „Jedes Gesicht spürt, dass es wie noch nicht fertig ist, es will sich zu Ende gestalten, es hat ein Gesicht vor sich, nach dem es sich formt: das ist das Leitgesicht“ (M. Picard, Das Menschengesicht 1929 /1955, 82ff.).

Wir laufen also mit provisorischem Antlitz herum. Die Behauptungen Picards machen mich neugierig. Was werde ich in meinem Leben noch so alles anstellen können, ja anstellen müssen, damit mein Leitgesicht weiterhin auf meinem Gesicht ‚gerinnen‘ kann?

Zeitgemäß ist Picard mit seiner tief religiösen, dabei psychologisch feinsinnigen expressionistischen Philosophie – eine wilde Mischung also – mitnichten. Die gegenwärtigen Tendenzen der Zerlegung und „Finanzialisierung“ alles Lebendigen (Joseph Vogl) machen, mit freilich ganz anderen Methoden, andererseits auch vor so einem pittoresken Gegenstand wie dem Menschengesicht nicht halt.

Das konnte man schon vor der Pandemie an den dystopisch anmutenden Berichten über den Konzern ClearView ® festmachen. Dieses Unternehmen produzierte vor allem 2019 und Anfang 2020 Schlagzeilen, weil aufflog, dass es sich die Substanz seiner Datenbank aus Millionen von Bildern von Privatpersonen nicht nur auf fragwürdige Weise aus den so genannten sozialen Netzwerken besorgt hatte, sondern damit zugange war, dieses immense Archiv durch eigens entwickelte Enzifferungsalgorithmen zum Entwurf einer Digitaltypologie und Prognostik (!) einzusetzen, zu dem Zwecke letztlich, sich alle darin gesammelten Gesichter mitsamt der digitalen Einschätzung ihres ‚zukünftigen‘ Gesicht-Gefahren-Potentials durch den Verkauf an Agenturen, Behörden, Geheimdienste etc. finanziell vergolden zu lassen.

ClearView® und ihre auf ein berechenbares Maß gebrachten Gesichtsnarrative, das wäre mit ein paar Spezifikationen doch ein potenter Kooperationspartner für Ihr neuestes „Raster“-Therapie-Projekt gewesen, oder Herr Spahn?

Solche Konzerne und ihre Unternehmensstrategien jedenfalls haben existentialistische Appelle wie jenen von Albert Camus – dem zufolge jede Person ab einem gewissen Lebensalter „alleine“ verantwortlich sei für ihr Gesicht – längst einkassiert.

Noch einmal zurück zu Max Picard. Der war ein Zeitgenosse von C.G. Jung, hatte aber zeitlebens nur wenige und dann aversive Berührungspunkte mit der Analytischen Psychologie und ihrem Begründer. Das verwundert insofern, als auch Picard in seinen Studien zum Gesicht mit der Dimension der Zukünftigkeit und dem Moment der Teleologie in Teilen eine Art von spirituell-physiognomischer Eschatologie entwarf.

Therapeutisch wertvoll scheint mir, dass der Berliner Kulturwissenschaftler Karsten Lichau in seiner großen Picard-Studie auf einen heute kaum mehr gebräuchlichen Plural von Gesicht, und dessen ebenso ins Hintertreffen geratene Bedeutungsdimension hinweist: „Gesichte“ (K. Lichau, Menschengesichte. M. Picards literarische Physiognomik, 2014, S. 23ff.).

Gesichte meint nicht das bloße Quantum von zwei oder mehr Gesichtern. Es drückt sich darin das performative Dritte im Umfeld des Antlitzes aus, das mit den Figuren der Erscheinung, der Vision, der Fiktion und des Seherischen einhergeht.

Vielleicht habe ich in Sitzungen den Eindruck, dass sich auf oder über der Oberfläche eines Gesichtes Tiefe figuriert. Da scheint dann sowohl etwas am Gegenüber als auch in meiner Wahrnehmung zu passieren, oder vielleicht auch irgendwo auf halber Strecke.

Ich denke, wir beschneiden die Ganzheit des Wahrnehmungsgegenstandes wie auch unser intuitives Erkenntnismoment, wenn wir beides pars pro toto in physiologischen Details profanisieren, es im speziellen Augenaufschlag eines Patienten verorten, um damit die zwischen Immanenz und Transzendenz flimmernde Einheit des Gesichtes deutend durchblicken und mentalisieren zu wollen.

Vielleicht gibt uns das Gesicht psychoanalytisch weniger zu verstehen auf, als dass es uns Gelegenheit sein kann, in der therapeutischen Situation unsere durch Pandemie und digitale Kultur arg verklumpte Sinnlichkeit zu rehabilitieren. In den Aufsätzen der Berliner Psychoanalytikerin Dorothee Stoupel gibt es Überlegungen zu „präsentativen Deutungen“, die weniger auf Wissen denn auf Sein abzielen, in erster Linie die Expressivität des Vorhandenen fördern helfen sollen.

Ich befürchte aber, dass wir als Therapeuten und speziell als Analytiker „unmusikalischer“ (Jürgen Habermas) werden, wenn es um das Erfassen der „Melodie“ und der Resonanzräume des einzelnen und damit meine ich des ganzen einzelnen Gesichtes geht.

Ich fürchte auch, wir werden zukünftig immer mehr dahingehend unter Druck geraten, mit dauerhaft scharf gestelltem Blick etwas im Patientengesicht identifizieren zu sollen, das Gesicht und alle anderen therapeutischen Empfindungsobjekte zu rastern, sie entziffern und möglichst kategorial zuordenbar machen zu müssen.

Vielleicht werden wir durch noch folgende Reformen angehalten werden, Datensammler auch in Gesichtsdingen zu werden, das Gesicht selbst dabei aber immer weniger sehen, und selber weniger erfahren mit etwas so utopisch-gestrigen wie einem Gesichte

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