Aus der Welt gefallen –

Von Sylvia Runkel, Stuttgart. Manchmal vergesse ich die Maske – sitze PatientInnen gegenüber und merke, daß etwas nicht stimmt, ach ja – doch das stelle ich mir nur vor, immer wieder in diesem vergangenen Jahr, von dem ich gerne spreche als das Jahr, das hinter uns liegt. Und so greife ich noch an jedem Morgen nach der Maske und gehe in die erste Therapiestunde.

Die Maske zu vergessen gelingt mir nicht. So erschrecke ich fast, sehe ich auf dem Bildschirm Menschen, die sich nahe kommen, sich berühren, ohne Maske zu tragen, da stimmt was nicht – ein kurzer Moment, und ich realisiere, das war die alte Zeit. Begegnung und Berührung lagen im wundervollen Reich des Möglichen. In diesem von der Pandemie heimgesuchten Jahr war der Andere ein potentiell Viren übertragender Feind, den es zu meiden galt. Und wir zogen uns zurück, weil wir sollten, weil wir mussten, zurück in unsere Blase, in unseren Echoraum.

In einer seiner Minutennovellen erzählt der ungarische Schriftsteller István Örkény von der Absurdität eines Echoraumes: „das Echo von …funktioniert bis heute einwandfrei. Seltsam ist nur, egal, wer kommt und was er ruft, das Echo immer nur antwortet: „Wer hat diese jungen Radieschen in meine Schuhe getan?“. Was anderes kann es nicht sagen.“ (Örkény, S.74)

Wie nun zurückkehren in eine Welt der Begegnungen und Berührungen, der konkreten wie geistigen?

Die Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart hat für die BewerberInnen des kommenden Studienganges Architekur die Aufgabe ausgegeben, einen temporären Begegnungsort zu gestalten. „Thema: Nach der Pandemie: Endlich wieder gemeinsam….Alles wirkliche Leben ist Begegnung. – Martin Buber…Die Corona-Pandemie hat uns voneinander getrennt. … Doch wir hoffen auf eine Zeit nach der Krise und sehnen uns nach Orten, an welchen wir uns wieder nah sein können und uns nicht nur virtuell treffen. Wie wäre es, für die erste Post-Pandemie-Zeit temporäre Begegnungsorte zu improvisieren? Sie existieren nur für ein paar Wochen, um das Ende des Abstandhaltens zu feiern. Experimentelle Orte zum Reden, Diskutieren oder Debattieren, Tanzen, Essen und Trinken, Arbeiten, gemeinsam Sport treiben…“ heißt es in der Ausschreibung. (https://www.abk-stuttgart.de/fileadmin/redaktion/content/hochschule/organisation/hochschulverwaltung/herunterladen/studiengaenge/architektur/architektur_ba/abk_stud.arc_ba_hausaufgabe_20210118.pdf)

Freunde zeigten mir das Entwurfsmodell ihres Sohnes: Er hat den nahen, zwischen drei sich kreuzenden Straßen als Leerraum aufgehenden Platz, der nur zu passieren ist, nicht aber zum Verweilen einlädt, gestaltet. Luftkissen unterschiedlicher Größe wurden miteinander verschachtelt und derart stabilisiert zu einem luftigen, transparenten Dach gestaltet. Je nach Lichteinfall zeichnet sich auf der Folienbeschichtung der Luftkissen ein Farb- und Formspiel ab, welches wiederum „ein lebendiges Muster“ auf den Ort wirft, in dem sich die Schatten von Bäumen, Häusern und Menschen spiegeln.

So verleiht das Dach, das sich wie ein „Sonnensegel“ über dem Platz erhebt, diesem eine Weite und eröffnet den Raum, in dem Menschen wieder zusammenkommen können – ein Dach, wie aus vielen (flachen) Seifenblasen gemacht, von der Idee inspiriert, „ein Jahr fehlende Blasenkollisionen nach(zu)holen“. Was für ein Entwurf! – von einem 18-Jährigen, der nach dem Coronajahr in diesem Sommer seine Abireise mit Schulfreunden nachholen möchte und noch nicht weiß, ob er bis dahin geimpft seinen Rucksack packen und losziehen kann.

Ich nenne es das Dach der Sehnsucht. Denn „unsere Lebendigkeit liegt in der Sehnsucht: Sie macht uns aus. Macht uns geschmeidig, zärtlich, erfinderisch, sie regt unsere Phantasie an, in ihr träumen wir.“ (von Arnim, S.228).

Und ich picke mir die schönen Worte von Else Lasker-Schüler aus ihrem Gedicht, das ich vor einem Jahr erinnerte, setze sie unter das lichte Dach gegen den „Mehltau“, der im letzten Jahr auf unseren Seelen lastete:

 „Du! Wir wollen uns näher verbergen…das Leben liegt in aller Herzen…Du! Wir wollen uns tief küssen …es pocht eine Sehnsucht an die Welt“.

Eine Sehnsucht, die nach Aufbruch ruft, kreativ, jung, frisch gestaltet werden will, der wir als Gesellschaft Räume freigeben sollten.

Literatur

Gabriele von Arnim, Das Leben ist ein vorrübergehender Zustand, 2021, Hamburg, Rowohlt

István Örkény, Minutennovellen, 2002, Frankfurt: Suhrkamp

Die übrigen Zitate stammen von T.M., Stuttgart

Stuttgart, 18.5.2021

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