Von Volker Münch, Diplom-Psychologe, Psychoanalytiker in eigener Praxis in München.
Vielleicht fangen wir mit einem Eindruck an, der sich einstellte, als Friedrich Merz in einer Fernsehdiskussion bei Anne Will sich an Annalena Baerbock und Olaf Scholz abarbeiten musste? Titel der Sendung: Wie wollen wir leben? Merz entlarvte sich einmal mehr unfreiwillig als Repräsentant von Konzepten und Ideen, die jenseits des klassischen Konservatismus und Wirtschaftsliberalismus seit langem als nicht mehr zeitgemäß und dringend überwindungsbedürftig angesehen werden. Das einvernehmliche süffisante Lächeln von Baerbock und Scholz konnte, wenn schon nicht als Koalitionszusage, so doch als Ausdruck insgeheimer Gemeinsamkeit gedeutet werden.
Zahlreich sind gerade die politischen und journalistischen Versuche, die durch die Coronapandemie ausgelösten Umbrüche und Verwerfungen zu beruhigen und wegzureden, indem man auf eine baldige Normalisierung hofft angesichts der Erfolge in der Impfstoffentwicklung. Doch bereits jetzt zeichnen sich Veränderungen ab, die dauerhaft Bestand haben dürften: – der Flugverkehr wird auf einen Großteil seiner Geschäftskunden verzichten müssen, womöglich für immer, – die E-Mobilität nimmt endlich auch in Deutschland sprichwörtlich Fahrt auf, – notgedrungen findet eine Wiederentdeckung des Nahen, der Nachbarschaft statt, sei es bezüglich der dort lebenden Menschen, der Natur vor der Haustür oder der Freizeitaktivitäten, die auch allein oder im Nahbereich unternommen werden können.
Die These, dass es vor allem die durch die zunehmende Globalisierung abgehängten Mittel- und Unterschichtsangehörigen sind, die sich Ausdruck verschafft haben, indem sie Populisten gestärkt haben, ist nicht unumstritten, aber in weiten Teilen plausibel. Viele Menschen sind irritiert bis erbost über die andauernden Anti-Corona-Demonstrationen. Es könnte jedoch gefährlich sein für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, diese pauschal zu disqualifizieren. Unter Beachtung psychologischer Gesetzmäßigkeiten führt die verbreitete einfache Verdammung und Zurückweisung der Positionen dieser Bevölkerungsteile dazu, dass diese sich noch mehr marginalisiert fühlen dürften. So ist die große Verwunderung über die über 70 Millionen Menschen in den USA, die erneut Donald Trump gewählt haben, aus psychologischer Sicht selbst verwunderlich. Denn Trump steht natürlich für die Sehnsucht nach dem sicherheitsspendenden starken Anführer, der die Umwälzungen der Zeitläufte einfach anhalten oder gar umkehren können sollte. Letztlich geht es um die Sehnsucht nach einem Zustand, der zwar so nie real gewesen ist, den aber jeder kennt, der die Vergangenheit als eine gute interpretiert wissen will. Diese Sichtweise erspart eine differenziertere und selbstkritische Betrachtung, die Sehnsüchte nach Geborgenheit und Berechenbarkeit der Welt werden der Einfachheit halber in die unerreichbare Vergangenheit projiziert, die Zukunft erscheint zu ungewiss und bedrohlich. Die große Verunsicherung, ja Angst des einfachen Bürgers, resultiert aus dem Alleingelassenwerden mit diesen Ängsten. Was fehlt, so schon 2000 William van Dusen Wishard in seinem Buch „Between Two Ages“, ist eine übergeordnete, entängstigende Erzählung, ein Narrativ, die etwas Positives, etwas Machbares in sich birgt, eine Vision ausstrahlt. Dies hatte auch Barack Obama erkannt, wie er im ersten Teil seiner Autobiografie beschreibt, als er den Slogan „Yes, we can“ für seine Kampagne wählte. Seine Politik selbst hingegen enthielt, so sagt er selbst, nichts wirklich Revolutionäres.
So wie wir als einzelne Menschen mit Verlusten, mit Umbrüchen, mit Schicksalsschlägen umgehen lernen können, wenn wir uns auf Vertrautes, auf Freunde, auf innere Fähigkeiten, auf unsere innere, psychologische Stabilität verlassen können, so stellt sich auch für Gesellschaften immer wieder diese Herausforderung, plötzlich in einer unvorhergesehenen Situation zu sein und nun damit umgehen zu müssen. Die große Verunsicherung entsteht durch die unterschiedliche Geschwindigkeit der Entwicklung auf der gesellschaftlichen und der persönlichen Ebene. Während der entfesselte weltweite Austausch von Waren, Dienstleistungen und Informationen sich immer zu beschleunigen schien, Kritik an Überkonsum, Burnout, Umweltschäden hervorbrachte, sind wir alle mit zunehmendem Alter oder aber mit je größerer individueller Ängstlichkeit immer im Nachsehen – allein durch unser Aufwachsen in einer vergleichsweise überschaubareren, geordneter erscheinenden und vor allem uns vertrauteren Welt. Individuelle Veränderung und so etwas wie seelisches Verdauen braucht mehr Zeit, als uns die Postmoderne dafür lässt – nun bekommen wir sie zwangsverordnet, und nicht wenige können zu wenig damit anfangen. Dass emotionale Verarbeitung nicht beschleunigt werden kann, weiß nicht nur jeder, der mit schweren unvorhergesehenen Einschnitten in seinem Lebensweg, seiner Lebensplanung fertig werden musste. Kommen nun die äußeren steigenden Anforderungen und Beschleunigungen der krisenhaften Entwicklung der Welt dazu, gibt es einige, die aus Selbstschutz „die Schotten dicht machen“ und den Status quo verteidigen wollen. So geschehen im Zuge der Ereignisse um die Themen Finanzkrise, Migration und nun während der Corona-Pandemie.
Letztlich ist Stabilität natürlich immer auch eine Illusion angesichts der sich stetig wandelnden Welt einerseits und der Veränderungen unseres Körpers und in unserem Seelenleben andererseits. Sicher wollen wir manches selbst in unseren Leben ändern, verbessern. Doch wir brauchen auch immer Sicherheit. Gibt es sie weniger in unserem Umfeld, da sich alles immer mehr beschleunigt, sind wir, darauf hat der Soziologe Hartmut Rosa hingewiesen, zumindest auf Resonanz angewiesen, um uns eingebunden und gehalten zu fühlen. Da die natürlichen Resonanzräume zwischen uns Menschen derzeit stark eingeschränkt sind, erzeugt dies umso mehr Stress. Unsicherheit braucht ihre Benennung und eine Erzählung, wie mit ihr umgegangen, wie sie bewältigt werden kann. Hier sind auch innere Themen angesprochen, denn jeder Einzelne geht anders mit seelischer Verunsicherung und Entwurzelung, mit Ängsten um. Davon aber wird entschieden zu wenig gesprochen.
Wo sind die Versuche, die derzeitigen Geschehnisse einzuordnen? Es gibt kaum Modelle für eine Entwicklung der Weltgesellschaft. Reflexhaft scheinen die Akteure zu spalten, zu beschuldigen, Restauration einzuklagen. Die Fähigkeit zur Ambivalenz, zum Zusammendenken von Gegensätzen, zum Aushalten von Spannungen, schien lange ins Hintertreffen geraten zu sein. Erst in allerjüngster Zeit zeigt sich eine Stärkung der gesellschaftlichen, aber auch der persönlichen Resilienz, was seine Ursache in den vielfältigen Erfahrungen von Belastungsbewältigung in den letzten Monaten haben könnte: die Wahl von Biden, die erstaunliche Leistung von Ländern etwa in Afrika angesichts des Coronavirus, die dezidiertere Antwort auf rechte Gewalt und antidemokratische Bestrebungen im Gewand von Demokraten, die Wiederherstellung der Lebendigkeit wissenschaftlichen Diskurses, die Rehabilitierung des starken Staates, politischer Gewaltenteilung – all dies ist bemerkenswert. Die Hoffnung darauf, dass Konfliktthemen wieder ausdiskutiert, dass Probleme gemeinsam gelöst werden können, scheint langsam wieder aufzuerstehen.
Doch wie können diejenigen, die sich abgehängt fühlen oder dies sind, die marginalisiert werden und sich ängstigen, abgeholt und integriert werden in die Mitte unserer Gesellschaft? Eine Antwort könnte sein, dass wir die Vielfalt von Meinungen wieder mehr wertschätzen müssen, auch wenn einzelne Wortmeldungen uns zunächst erschrecken oder befremden. Dass wir auch völlig Andersdenkenden wieder mehr Gehör schenken. Das heißt nicht, dass wir deren Meinung teilen oder annehmen müssten. Durch das Zuhören könnte sich ein neues gesellschaftliches Selbstverständnis, ein Narrativ ausbreiten, ein Eindruck, ein Bild der Gesellschaft von sich selbst entstehen, dass gesellschaftliches Fortkommen jeden Einzelnen braucht und auch unterschiedliche und neue Visionen unserer Zukunft. Dies könnte auch durch Vertreter der Gesellschaftswissenschaften wie Soziologen, Psychologen, Psychotherapeuten geschehen. Deren mediale Präsenz ist ausdrücklich zu unterstützen, da hier fachbezogenes Wissen der Humanwissenschaften vermittelt werden kann. Gerade vor dem Hintergrund der derzeitigen Zahlenfixierung und des Versuchs, der grassierenden Ängste allein durch objektive Daten Herr zu werden, ist dies wünschenswert.
Was man beobachten konnte, war bislang jedoch mehr der Versuch der gegenseitigen Diskreditierung, des Lächerlichmachens. Der in der Ablehnung unserer Gesellschaft oder konkret der Maßnahmen der Corona-Bekämpfung zum Ausdruck kommende Wunsch nach einer Perspektive, die möglichst viele mitnimmt, ist verstehbar vor dem Hintergrund des urmenschlichen Wunsches nach Zugehörigkeit, nach Anschluss, danach, einen kleinen Beitrag liefern zu dürfen für das große Ganze, und sei es auch, dass man dem Einfluss des großen Geldes oder denen der Sterne oder von Globuli nachgeht.
Gerade unter Pandemie-Bedingungen kann man davon ausgehen, dass sich die, die sich bereits davor sehr kritisch mit der derzeitigen Weltwirtschaft, deren Folgen für das Klima, die Gerechtigkeit, auseinandergesetzt haben, noch deutlicher artikulieren werden. Der Begründer des jährlichen Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, hat in „The Great Reset – Covid 19“ deutlich gemacht, dass die derzeitigen Umbrüche unbedingt genutzt werden sollten, um den erforderlichen ökologischen Umbau der Industriegesellschaften voranzubringen. Hinter der Wut, die sich gerade artikuliert, aber steckt Angst. Angst mit seinem bisherigen Weltbild nicht mehr hinterher zu kommen, den Anschluss zu verlieren. Nicht umsonst wirken die Weltbilder von Verschwörungstheoretikern fast kindlich einfach und scheinen damit Trost zu spenden. Sie zeigen, wie abhängig sich manche Menschen von „denen da oben“, also den kollektiven psychologischen Eltern fühlen, wie wenig sie sich als erwachsen Agierende, als Einfluss nehmende, als Gestaltende verstehen können. Sie sind in psychischer Not.
Es ist auch psychotherapeutische Erfahrung in diesen Tagen, dass traumatisierte Patienten, die keine eigene Entscheidungen treffen konnten, die verletzt wurden, die wenig Freiheit hatten, ihren eigenen Weg zu gehen, am empfindlichsten reagieren. Sie sind Seismographen, auch wenn sie inhaltlich auf Abwege geraten, indem sie über die Ursachen ihrer Umstände falsche Schlüsse ziehen und falsche Verursacher mutmaßen. In ihrem Skeptizismus, in ihrer Ablehnung äußert sich auch eine Zerrform von Kritik, die bereits vor der Pandemie sichtbar war. Bereits seit Edward Snowdons Enthüllungen, der zunehmenden Macht der Konzerne und Geheimdienste durch alles umfassende Digitalisierung, war das Thema der Angst vor Überwachung und allseitiger Kontrolle virulent, dies wird derzeit schnell vergessen. Letztlich steht diese Angst auch für ein Unbehagen, mit und in diesem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nicht für die Herausforderungen der Zukunft (Klima, Migration …) gerüstet zu sein. Dies fordert die vorhandenen Strukturen heraus, einfühlsam und gleichzeitig rational zu reagieren.
Der Irritation über den Populismus schließlich kann vieles genommen werden, wenn wir lernen zu verstehen, dass die zugrundeliegenden tiefen Ängste und andere Affekte, wenn sie nicht ausreichend ernst genommen werden, umso mehr Macht im öffentlichen Diskurs erhalten und dann für den verzerrten Eindruck sorgen, dass die Verunsicherten und Ängstlichen bereits die Mehrheit stellen. Dazu gehört, dass viel mehr erklärt und somit Sicherheit geschaffen werden muss. Noch einmal: Es fehlt nach wie vor ein Narrativ, wie und warum gerade eine große krisenhafte Zuspitzung eine große Chance für nachhaltige Veränderungen mit sich bringen könnte. Veränderungen, die möglichst allen helfen und nutzen und die Hoffnung machen auf ein nachhaltigeres, bewussteres und damit zufriedeneres Leben. Hier würde etwa die in der Analytischen Psychologie verbreitete Sicht helfen, dass Krisen immer ein Potenzial enthalten, neue Sichtweisen auf Probleme zu entwickeln. Psychotherapeuten kennen diese Denkweise aus ihrem beruflichen Alltag der Bearbeitung individueller Krisen. Menschen entwickeln auch fortwährend eine neue Sicht auf ihr Leben, auf die Gesellschaft, entwickeln neue Perspektiven, umso mehr, wenn nichts mehr so wie früher zu funktionieren scheint. Viele wollten bereits vor der Pandemie mehr Veränderung. Nun sind wir im Veränderungsprozess, alte Sicherheiten bröckeln, die Angst greift um sich, doch einfache Lösungsansätze und Projektionen ebenso. Flüchten oder Standhalten, so beschrieb es Horst-Eberhard Richter, der Nestor der politischen Psychoanalyse, dies sei die Alternative. Dagegenhalten, wo Grenzen überschritten werden, standhalten, wenn Kritik geübt wird und Verständnis äußern für Gefühle, die derzeit häufiger schwer auszuhalten zu sein scheinen: dies könnte einen Weg aufzeigen in einen weniger emotionalisierten, in eine weniger die Angst reflexhaft mit Aggression beantwortenden mitmenschlichen Umgang. Dazu wird aber auch Verzicht notwendig sein in Bezug auf Eskalation und Zuspitzung, und dies stellt gerade die Medien vor eine große verantwortungsvolle Aufgabe. Spaltung geschieht ihn Zeiten der Überforderung, ob auf persönlicher oder gesellschaftlicher Ebene. Sie entlastet zunächst davon, sich Gedanken über die eigene Schuld und Verantwortung zu machen, aber sie verhindert auch, diese Verantwortung zu übernehmen und damit handlungsfähig zu werden. So verständlich der Wunsch nach der Rückkehr der „guten alten Zeit“ für manche sein mag, in jedem einzelnen liegen die Ressourcen, dazu beizutragen, eine neue, bessere Zeit zu schaffen. Dass es dazu der Mitarbeit aller bedarf, sollte jedem Einzelnen viel mehr verdeutlicht werden, dann würde die grassierende Zukunftsangst sich in einen allgemeinen Aufbruch verwandeln können.