„Eine unordentliche Reihe von Tagen“ *

Von Sylvia Runkel, Stuttgart.

Montag               

Eine neue Woche bricht an. Frühlingssonne weckt mich, und ich bereite mich vor für den Tag. Praxismorgen vertraut, und doch ist es ganz anders. Die Türen den Patienten öffnen, sie halten sich an die Zeiten. Die Pausen ermöglichen mir die notwendige Desinfektion, das Lüften der Räume, auch treffen sich so die Patienten nicht im engen Wartebereich. Wenn sie kommen, ist ihr erster Gang ans Waschbecken, dann erst kommen sie an, und ich öffne ihnen die Tür zum Therapieraum und schließe sie hinter ihnen. Wir begrüßen uns mit Abstand. Im Lauf der Stunde wenden sie sich nun, nach den Schrecken der ersten Coronazeit, wieder vermehrt ihren Themen zu. Neue Patienten sehe ich kaum, keine Überweisungen von dem Hausarzt, der mich häufig konsultiert. Vielleicht sieht auch er wie Viele coronabedingt weniger Patienten.

Dienstag

Voller Praxistag. Ich suche Orientierung in diesen Zeiten. Mich informieren, lesen, hören, so viele Nachrichten, die ich aufnehmen möchte. Doch ist mir, als säße ich in einem kleinen Boot, den Wellen ausgesetzt schwanken wir beide, mal glaube ich, am Horizont Orientierung zu finden, schon schlägt es um am nächsten Tag. Gewiss ist das Ungewisse.

Mittwoch

Am freien Nachtmittag gehe ich gerne auf den Markt. Wie sehr hat sich dies verändert – es ist ein stiller Markt geworden, wir Menschen stehen geduldig in Schlangen, noch tragen nicht alle Masken, doch wie ich scheinen viele bemüht, Abstand zu wahren und diesen auch von den anderen zu erwarten. Kein Miteinandersprechen.

Einkaufen kostet nun Zeit. Und die Einkehr im Cafe? – das Cafe ist geschlossen. Traurig kehre ich mit bunten Waren bepackt nach Hause zurück. 

Es ist eine Traurigkeit in der Welt, an der wir – was?

Die Tage kam mir ein Gedicht in den Sinn, das mich nicht verlassen mag. Zu Beginn meiner Lehranalyse hat es mich begleitet, vielleicht wollte es mich mit meiner Melancholie versöhnen.

„Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, an der wir sterben müssen“ endet das Gedicht von Else Lasker-Schüler. Wann hat sie es in ihrem kurzen Leben geschrieben, vielleicht vor 100 Jahren? „Weltende“ betitelte sie es. Doch nie bedeutete mir das „Sterben“, von dem sie dichtete, das Ende, sondern ein Streben, nun kann ich sagen, nach Wandel und Zukünftigem.

Anders hingegen lese ich in diesen Tagen den Anfang des Gedichtes:

Es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wär,

und der bleierne Schatten, der niederfällt, lastet grabesschwer“

und es geht fort mit diesen schönen Zeilen:

„Du! Wir wollen uns näher verbergen…

Das Leben liegt in aller Herzen

Wie in Särgen.

Du! Wir wollen uns tief küssen –

Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, an der wir sterben müssen.

(E. Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte, Hg, K.J. Skrodzki, 2004: Frankfurt a. M., S. 104)

Selten wird von dieser Traurigkeit gesprochen, unter panisch erregender Angst und befürchteter, und nun im Diskurs sich bahnbrechender Aggressivität fristet die Traurigkeit über das Verlorene ein Schattensein. Eckhard Frick hat davon gesprochen in seinem Radiobeitrag.

Ich vermisse im Diskurs die Frage nach unserer aller Psyche.

Donnerstag

Einen wundervoll nachklingenden Glücksmoment bereitet mir die Nachricht, dass Kinderspielplätze wieder geöffnet werden sollen. Wie sehr habe ich das Rufen und Lachen von Kindern vermisst. Wo waren sie in den vergangenen Wochen der verwaisten Spielplätze? Ich fragte zu Beginn des „Lockdown“ die Wirtin unseres Italieners um die Ecke nach ihren Kindern. Mich verstörte ihre Antwort, die Kinder verließen aus Angst vor dem Virus nicht das Haus.

Wer aber wird das halten und für die Kinder da sein, ihnen helfen, das über Nacht Gekommene und Überwältigende zu verarbeiten und zu bewältigen? Wie angemessen sind die Worte von Susannah Wright im aktuellen Heft der Analytischen Psychologie. „Wenn wir von ihnen (desorganisierenden Traumata) überwältigt werden, versagen unsere Schutzmechanismen … Die gegensätzlichen Folgen von emotionaler Überwältigung … oder Lernen und Entwicklung befinden sich für das Kind folglich in einem empfindlichen Gleichgewicht. Emotionale Isolation erhöht das Risiko, überwältigt zu werden.“ (S. Wright, Analytische Psychologie Nr. 193, S. 104 f.)

Freitag

Was träumen meine Patienten? Da ist das Thema der Angst derjenigen, die mit Angstproblematik in die Therapie kamen. Im Alltag hingegen dreht derzeit ihre Angst wenig neurotische Pirouetten. Die kollektive Angst scheint sie gut einzubetten. Dann aber tauchen in Träumen zu Riesengröße herangewachsene, wilde Tiere auf. Mit furchteinflößender Geste gebieten sie dem Traum-Ich gehörigen Abstand.

Es ist ein Wüten in der Welt. Das Kleine wird zum Großen, ein Virus, nicht mal ein eigenständiges Zellwesen, möglicherweise einem Wildtier entsprungen, erfasst den Globus. Die Großen aber straucheln. Nie waren wir globaler als heute und ziehen längst gefallene Grenzen wieder hoch, um uns voreinander zu schützen.

Samstag

Gartentag. Ich pflanze an in mein neues Hochbeet. Doch auch die Stunden meines freien Tages sind durchdrungen, geradezu infiziert vom alles umgreifenden Thema Corona. So geraten mir die bisher vertrauten Rhythmen meiner Tage zwischen Beschleunigung und Konzentration hin zu Entspannung und Muße in Unordnung.

Mit dem Rad unterwegs vorbei an ungewohnter Szene: ein Mann, an seinem Dress erkennbar sportlich unterwegs, lehnt auf seinem Rad, das Handy in der Linken, den Blick nach oben gewandt zu einem alten Mann, auch der am Handy und im Fenster sitzend im oberen Stockwerk des Altersheimes. Davon hatte mir schon eine alte Tante erzählt, seit Wochen herrsche beschränkter Kontakt im Heim, manchmal käme ihre Tochter mit den Enkelinnen vorbei, die setzten sich dann auf die Bank auf der anderen Straßenseite, sie selbst auf ihrem Balkon, so würden sie per Telefon miteinander sprechen und sich einander sehen können.  

Vor dem schönen Gründerzeithaus hat einen junge Frau einen schlichten Holztisch auf den breiten Bürgersteig gestellt und verkauft selbst genähte Schutzmasken aus „gutem Stoff“. Ich frage sie, ob ich ein Bild machen dürfe, freundlich nickt sie und bittet ihrerseits, ob ich es ihr schicken könne, sie suche eines, das sie auf Facebook stellen könne. Zu Hause hole ich ihre schlichte Visitenkarte aus der Tasche und lese unter ihrem Namen „Gewandmeisterin und Kostümdesignerin“. Nun näht sie Masken.

Den Sonntag aber

möchte ich mir träumen als Fenster der Zuversicht, dass die Krise unserer aus den Fugen geratenen Welt zu einer anderen Welt führen möge, ja, mit einem Impfstoff verfügbar für alle und einem Gesundheitssystem, das „pandemisch“ den Globus umspannt und vielem mehr…

*Das Zitat entstammt dem Gedicht „Bedrohung“ aus „der Baum blüht trotzdem“ von Hilde Domin.

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