Fünfzig Jahre sind für eine Zeitschrift ein respektables Alter. Es böte sich an, genauer zu untersuchen, welche Themen den inhaltlichen Charakter unserer Zeitschrift bestimmt haben, wie sich dieser verändert hat oder auch nicht und in welchem Umfang diese Themen einen ziemlich verlässlichen Blick auf das Spektrum der deutschsprachigen Entwicklung der Psychologie von C. G. Jung zulassen. Diese »Lebenslinien« der Zeitschrift nachzuzeichnen und empirisch zu untersuchen, wäre vermutlich lohnenswert und sei hiermit empfohlen, kann aber in einem Editorial nicht geleistet werden.
Einen Blick möchte ich jedoch auf den Beginn werfen: Die Begründer und Erstherausgeber der Zeitschrift waren Wilhelm Bitter, Hans Dieckmann und C. A. Meier. Diese Herausgeber standen für eine synoptische Perspektive der Zeitschrift, die in der Zusammenstellung der drei Aufsätze des ersten Heftes von 1969 deutlich wird: »Psychotherapie im Strafwesen« (Bitter), »Vergleichende Untersuchung über die Initialträume von 90 Patienten« (Dieckmann) und »Das Symbol des Anthropos als Zielbild des Individuationsprozesses und der Menschheitsentwicklung« (v. Franz). Über die fünf Jahrzehnte hinweg gab es immer wieder Phasen, in denen die inhaltlichen Schwerpunkte wechselten, jedoch wurde diese empirisch-synoptische Perspektive nie aufgegeben. Der qualitative Anspruch der Redakteure und die Qualität der Zeitschrift ist – soweit ich das beurteilen kann – deutlich gestiegen, was leider nicht in der Zahl der Abonnenten zum Ausdruck kommt, die im Vergleich zu den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts stark zurückgegangen ist. Dieser Trend trifft alle Printmedien und hat in erster Linie mit dem völlig veränderten Kommunikationsverhalten in Zusammenhang mit dem Internet und den sozialen Medien zu tun.
Unser aktuelles Thema »Lebenslinien« bringt aus meiner Sicht zwei Blickwinkel zusammen: den der Individuation im traditionellen Sinne und den der Entwicklung im modernen klinischen Sinne. Dazu möchte ich auf einen Aspekt hinweisen, der mich in den letzten Jahren nach einigen Jahrzehnten klinischer Erfahrung mit Langzeitanalysen zunehmend beschäftigt: Das Konzept der Individuation versteht die Persönlichkeitsentwicklung zu einer eigenen Ganzheit als einen lebenslangen Prozess. Unsere theoretische Annahme ist, dass dieser aufgrund der dynamischen Kraft eines gesunden Selbst in Gang kommt und in Bewegung bleibt oder durch eine Analyse aktiviert werden kann. Ob als lebenslange Individuation oder als Entwicklung im analytischen Prozess, das Tempo, in dem diese Dynamik abläuft, ist individuell sehr unterschiedlich. Dies ist mir nach vielen Langzeitanalysen sehr deutlich geworden und mag trivial klingen, bekommt aber eine hohe behandlungspraktische Bedeutung, wenn wir zu beobachten beginnen, wie unterschiedlich das Entwicklungs-Tempo (auch im Sinne von »Heilung«) individuell geprägt ist. Es hält sich weder an Vorgaben der Psychotherapierichtlinien noch an bestimmte behandlungstechnische Vorgehensweisen (z. B. Deutungen) oder Wirksamkeitskonzepte. Wenn wir dieses individuelle Entwicklungstempo im Auge behalten, kann dies unsere analytische Haltung verändern oder zumindest beeinflussen. Es ist fast unmöglich, am Anfang einer Behandlung das individuelle Entwicklungstempo zu erfassen. Das ist auch nicht entscheidend; zu einer analytischen Haltung der Offenheit und psychischen Empfänglichkeit gehört meines Erachtens ein besonderes Augenmerk auf das individuelle Entwicklungstempo des einzelnen Analysanden, das im Verlauf einer Analyse immer wieder neu »kalibriert« werden muss. Einer der Gründe dafür mag sein, dass die Veränderungen sich oft erst dann äußerlich manifestieren, nachdem innere, »unsichtbare« Verschiebungen in der Persönlichkeit stattgefunden haben. Diese benötigen unterschiedlich lange, um manifest zu werden (sei es im Bewusstsein oder auch im Unbewussten, z. B. in Form von Träumen).
In »Komplexe und ihre Kompensation – Anregungen aus der affektiven Neurowissenschaft« nimmt Verena Kast mit ihrem Konzept der »Komplexepisode« eine wichtige entwicklungsdynamische Erweiterung der Komplextheorie vor, wenn sie annimmt, dass frühe und spätere, vor allem affektive Erfahrungen über die Zeit hinweg komplexhaft verknüpft und immer wieder aktualisiert werden. Das Tempo, mit dem diese Verknüpfungen stattfinden, wird möglicherweise auch durch die individuell zur Verfügung stehende Affektstärke bestimmt, die in der Theorie von Jung und in den Neurowissenschaften zum Motor von Entwicklung gehört. Auch Sue Austin führt eine behandlungstechnisch relevante Position ein, der eine Annahme von Entwicklungstempo zugrunde liegt: In ihrem Aufsatz »Zur Arbeit mit chronischen und unerbittlichen Formen von Selbsthass, Selbstverletzung und existentieller Scham (Teil 1)« führt sie im Gespräch mit der Patientin einen interessanten Parameter ein, indem sie sich und die Patientin ermuntert, zu versuchen, die Dinge zu »verlangsamen«, um sich Raum zu verschaffen, die sie bedrängenden inneren Figuren kennen zu lernen. Bernd Gramich zeigt in »Psychosomatische Krankheit als Entwicklungshemmung. Überwindung — Chronifizierung — Tod« am Beispiel von Essstörungen, wie sehr das Entwicklungstempo durch die Beziehung zum Körper beeinflusst und/oder beeinträchtigt werden kann. Er nennt diese Tempoverlangsamung (wie ich es nennen würde) eine »psycho-somatisch-psychische Regression«.
Einen anderen Aspekt von Umgang mit Zeit nimmt Wojciech Owczarski in
»Das Ritual der Traumdeutung im Konzentrationslager Auschwitz« auf. Hier wurde für eine Häftlingsgruppe die tägliche Mitteilung und das Deuten von Träumen zu einem Ritual. Unabhängig vom Zweck hat ein Ritual oft eine rhythmische Zeitstruktur. Owczarski bezieht sich auf Collins Konzept der »Interaktionsritualketten«, die u. a. dem Zusammenhalt und der Förderung von Vertrauen und Nähe in Gruppen dienen. Es könnte nun sein, dass dieses immer wiederkehrende Ritual den Menschen im Konzentrationslager, die in der permanenten Angst vor Vernichtung lebten und Zeuge einer fortgesetzten Vernichtung waren, dennoch ein Gefühl für eine psychische Kontinuität, für das Fortschreiten des Lebensflusses und der Aufrechterhaltung einer eigenen Identität gegeben hat. Dies förderte möglicherweise die Empfindung für eine Entwicklungszeit, die dem endgültigen Stillstand, (d. h. dem physischen wie psychischen Tod) entgegengewirkte.
In Roman Lesmeisters Aufsatz »›Doch es kehret umsonst nicht unser Bogen, woher er kommt‹ (F. Hölderlin). Gedanken zu Rückkehr, Wiederholung und Neubeginn im höheren Lebensalter« werden zentrale Aspekte des Heft-Themas »Lebenslinien« auf sehr erhellende Weise verknüpft und durchgearbeitet. Lesmeister betont das »auf Begrenzungen angewiesene Verständnis einer lebenslangen Individuation, das es in Schutz zu nehmen gilt gegenüber technologischer Selbstoptimierung und transhumanistischen Unsterblichkeitsbestrebungen«. Klinisch angewendet, sehe ich hier eine vergleichbare analytische Haltung, die ich mit der sorgfältigen Beachtung und Beobachtung des individuellen »Entwicklungstempos« in Behandlungen beschrieben habe. Eine analytische Haltung, die einen psychischen Raum bereithält, in dem teilnehmend beobachtet werden kann, um herauszufinden, wie sich die Entwicklung in ihrem eigenen Tempo entfalten kann.
Auf den ersten Blick im Gegensatz zu dieser analytischen Haltung stehen Elisabeth Grözingers Überlegungen in ihrem Beitrag »Kairos als Potential von Entwicklungsprozessen«, wenn man damit nur das Ergriffenwerden oder das Erfassen des richtigen Momentes, z. B. für mutative Deutungen, verstehen könnte. Auf den zweiten Blick dagegen eröffnet Grözinger mit ihren Überlegungen eine wertvolle Ergänzung der analytischen Haltung durch ein von theologischen Autoren wie Paul Tillich beschriebenes Verständnis von Kairos als »eine aktive Rezeptivität, analytischen Verstand und achtsames Gestalten«; besonders Letzteres beinhaltet die sorgfältige Beachtung des Tempos, in dem Entwicklungs- und Veränderungsprozesse individuell möglich sind. Erst dann kann sich das »Entwicklungspotential« entfalten, können Wandlungsmomente erfasst werden und – wie Grözinger es nennt – Kairos als »Fenster zum Selbst« erlebt werden.
Eine Erweiterung des traditionellen Umgangs mit der Typologie nimmt Monika Rafalski in ihrem Beitrag »Das (unerbittliche) Rad der vier Funktionen im Lauf des Lebens« vor. Das Zitat von Jung, das hier als Titel des Aufsatzes erscheint, entstammt dem Roten Buch. Zentrales Anliegen der Autorin ist das »Ausbalancieren« der Funktionen im Laufe des Lebens, der Versuch, »alle Funktionen gleichgewichtig zu beleben, was zu einer Transformation des Ichs führt«. Mit diesem Beitrag zeigt sich Rafalski als wichtige Vertreterin einer modernen jungianischen Ich-Psychologie. Auch ihr Konzept setzt voraus, dass wir als Behandler ein individuelles Entwicklungstempo respektieren, in dem diese Belebung möglich wird.
Mit diesem Jubiläumsheft führen wir die neue Rubrik »Aus dem Archiv der Analytischen Psychologie« ein. Das Wiederbetrachten früherer Denkweisen und der Blick von heute auf den Umgang mit analytischen Konzepten ist insofern sinnvoll, als aus meiner Sicht analytische Theorien und Konzepte vor allem unserer Angstbewältigung (Containment) in der nahen Begegnung mit der Psyche eines Anderen dienen. Insofern beschäftigen wir uns auch mit den Ängsten, Regressionen etc. von »damals«, die immer auch von der kollektiven, zeittypischen Situation beeinflusst waren. Wir publizieren Hans Dieckmanns Aufsatz von 1974 »Der Traum und das Selbst des Menschen« (AP Vol. 5 Nr. 1: 1-16). Dieter Treu hat dazu einen anregenden Kommentar verfasst. Für mich etwas überraschend ist seine abschließende verallgemeinernde Bemerkung, dass die Berliner Jungianer in der Nachfolge von Hans Dieckmann »nahe an der Psychoanalyse Melanie Kleins« arbeiten. Dieckmann erwähnt zwar Bions Gruppenkonzept und beschreibt mit seinen Ausführungen zum »Dual-Selbst« einen Vorgang, den wir heute als kommunikative Form der projektiven Identifizierung bezeichnen würden. Doch sehe ich damit die Berliner Jungianer noch nicht als »nahe an der Psychoanalyse Melanie Kleins« arbeitend. Sind es doch eher wenige, die sich mit kleinianischen oder postkleinianischen Konzepten vertraut machen und sich an einer Jung-Klein-Hybridbildung gärtnerisch beteiligen.
Den Abschluss dieses reichhaltigen Jubiläumsheftes, das durch ein Denkbild von Michael Lindner sowie eine Filmbesprechung von Volker Münch abgerundet wird, bildet die Publikation von Theodor Seiferts Memorial zum 51. Todestag von Jung über die »Prospektive Funktion«. Ganz im Sinne meiner Hauptperspektive für dieses Editorial, das individuelle und schwer einschätzbare Entwicklungs-Tempo, hebt Seifert als ein Merkmal der prospektiven Funktion deren Potential hervor, das Unmögliche zu denken, offen für Überraschungen zu sein; denn – so möchte ich ergänzen – Überraschungen ermöglichen Veränderungen.
Gustav Bovensiepen, Köln