von Volker Münch, München.
Wir leben seit zwei, drei Wochen in einer dramatisch anderen Welt. Der Boden unter unseren Füßen ist in Bewegung geraten, auf eine Weise, die niemand erwartet hat. Nur mühsam finden wir uns in unseren Leben zurecht. Dies betrifft sowohl unsere Patienten als auch oft genug uns selbst. Seit kurzem sind wir aufgerufen, Patient*innen nur noch im „medizinisch begründeten“ Notfall persönlich zu empfangen. Relativ viele von uns arbeiten bereits im Videomodus.
Dadurch verändert sich in der therapeutischen Situation eine Menge.
Zum einen erleben unsere Patienten auf bislang nie dagewesene Weise, dass wir mit Ihnen im selben Boot sitzen wie sie selbst. Dies ist wichtig, da es Halt gibt. Wir sind gefordert, unseren Berufsalltag und unser Setting anzupassen, müssen mit den Veränderungen, die von außen auf uns zukommen, umgehen.
Vieles ist belastend geworden, aber vor allem machen die geforderten Umstellungen von Hygienemaßnahmen, die Vermeidung des Handgebens, bei der Videosprechstunde der völlig veränderte Kontakt, die Unmöglichkeit des direkten Blickkontakts, die vergröberte, digitalisierte Bild- und Tonwahrnehmung zu schaffen.
Für mich ist es erstaunlich, wie viele Patienten sich auf diese Veränderungen einlassen. Den meisten von Ihnen gelingt es, die Kamera so zu positionieren, dass der Einblick in ihre Wohnung auf ein Minimum beschränkt ist. Die Verunsicherung führt bei manchen dazu, dass Sie förmlich am Bild des Therapeuten zu kleben scheinen, Sie fixieren ständig den Bildschirm, andere wiederum, jene, die zuvor bereits das Couchsetting genutzt haben, kommen besser zurecht, Sie bewegen ihren Blick freier, manche wünschen sich, dass sie ähnlich dieser Situation, den Therapeuten nicht sehen wollen, woraufhin dieser, nach der Begrüßung face-to-face (virtuell) sein Antlitz für den Patienten technisch schwärzen kann.
Einige Patienten haben auf Anregung eine bequeme Sitzmöglichkeit in der Nähe der Kamera eingenommen und sitzen nun in einem Sessel, die Beine hoch gelegt, den Blick auf die Wand vor ihnen, der Analytiker sitzt „virtuell“, wie gewohnt, schräg hinter ihnen, sieht sie im Profil. Dieses „zusammen in einem Raum und dennoch in getrennten Räumen“ fühlt sich in seiner Widersprüchlichkeit ähnlich an wie das Couchsettings selbst. Eine andere Beobachtung ist: Die Stimme wird zum Fokus, man bemerkt, gerade wenn man sein Gegenüber nicht sieht, wie wichtig und informationsreich die Rhythmik und Melodie der Stimme jenseits des inhaltlich Gesprochenen ist. Natürlich sollte man nach wie vor die in einer sehr leisen Sprechweise verborgene Aggression des Patienten im Auge haben, auch wenn man per Video die Möglichkeit hat, den Pegel des Lautsprechers seinen Bedürfnissen anzupassen.
Dennoch: es kostet mehr Energie, die Verbindung zum Patienten aufrecht zu erhalten, wird sie doch zunächst technisch aufgebaut und aufrecht erhalten. Der andere ist nicht so selbstverständlich da, da nicht körperlich präsent im Raum. Es entsteht auch in der Videosprechstunde ein therapeutischer Raum, dieser erstreckt sich jedoch m.E. mehr ins Innere, baut auf dem auf, was bereits in der Beziehung aufgebaut wurde.
Bei der VIdeosprechstunde sieht man sich selbst ebenso in einem kleineren Bildschirm, dies kann zur Inszenierung verleiten, aber auch zu einer erhöhten Sensibilität dafür, wie einen der Patient sehen könnte. Es führt eine dritte Position ein, das Auge der Kamera, das Medium, das uns verbindet, wird auch zu einem Medium, dass eine neue Distanzierung einführt.
Die Gegenübertragungsgefühle gegenüber meinen Patienten haben sich in der Tiefe wenig verändert (die typisch unterschiedliche Zeitwahrnehmung der Sitzungslänge, die von Patient zu Patient variiert, scheint sich nicht verändert zu haben), jedoch sind neue Wahrnehmungen dazu getreten. Zum Teil habe ich durch die eigentümlich neue Sicht auf meine Patienten diese noch nie so gesehen, wie ich sie zuvor gesehen habe. Man sieht sich ein Stück wie das erste Mal, der Eindruck gleicht der Fremdheit der vertrauten Umgebung nach einer langen Reise. Auch hier entwickelt sich ein doppelter Blick: der altvertraute, erinnerte Bild des Patientin wird überlagert und angereichert durch ein neues, auch irgendwie verzerrtes, aber immer ungewohntes Bild des Anderen. Man kommt diesem Anderen nicht nur ungewohnt nahe, in dem man den Hintergrund der Wohnung des Patienten sieht, sondern noch viel mehr schaut man in das mehr oder weniger den Bildschirm umfassende Gesicht des Patienten, beobachtet diesen, ohne dass dieser bemerkt, dass man ihn oder sie beobachtet, denn diesen Blick sieht dieser auf seinem Bildschirm als einen auf den Bildschirm abgesenkten Blick, keinen der seinen Augen gilt – wie erwähnt begegnen sich die Blicke nie wirklich, auch dies in einem doppelten Sinn! Dadurch entsteht eine Entfremdung, die paradoxerweise aber auch eine größere Freiheit es Blickes erlaubt. Die ungewohnte Getrenntheit weckt auch ungewohnte Nähewünsche seitens des Therapeuten, es entsteht Enttäuschungswut, die gut contained werden muss.
Wir müssen sehr aufpassen, dass die neue Welt der Videosprechstunde, gerade weil sie schnell zur Gewohnheit führen kann, nicht die Verantwortlichen im Gesundheitswesen dazu verleitet, diese Leistung zur Standardleistung zu erklären. Es muss auch hier eine „Exit“vereinbarung her, damit die vor kurzem noch lebendigen Widerstände gegen die weitreichende Digitalisierung auch der Psychotherapeutenschaft nicht völlig in Vergessenheit geraten.
Zuallererst befinden wir uns aber inmitten eine schweren kollektiven Traumatisierung. Die individuelle Psychodynamik bildet nun den Hintergrund für die Bewältigung der Situation. Ich kenne auch Patienten, die nun erleichtert reagieren, da die Welt keine Anforderungen an sie mehr zu stellen scheint, alles andere wird ausgeblendet. Andere wiederum verarbeiten die Situation eher paranoid und verarbeiten so ihre große Angst. Auch wir Therapeuten finden noch kaum die Worte, auszudrücken, was uns jetzt bewegt. Die Situation ist zu überwältigend und zu groß, um unsere Gefühle schnell benennen und einordnen zu können. Sicher fehlt uns noch der Abstand, um beurteilen zu können, was diese Zeit mit uns allen macht. Auch die abschließende Bewertung der jetzt veränderten therapeutischen Praxis (v.a. durch Videosprechstunden) kann uns erst gelingen, wenn wir diese Zeit überwunden haben.