Es gibt Andere – Gedanken auf einem Spaziergang

von Michael Péus, Einsiedeln.

Vor Wochen habe ich mir in Stunden der Überforderung gewünscht, Gott möge doch einmal endlich die Welt anhalten, im Wissen, dass dies unmöglich jemals geschehen könne. Heute, meine Schritte in Richtung des Einsiedler Klosterwalds lenkend, wurde mir bewusst: genau dies ist geschehen.

Das Riesenrad, welches sich schneller und schneller drehte, wurde abrupt gestoppt. Die ausgebremste Wucht des Schwunges führte zunächst zu Stolpern, Fallen, Stürzen – zu Chaos und Desorientierung, Heulen und Zähneklappern. Und nun? – Wie wunderbar diese Welt als stiller, kaum belebter Horizont! Und wenn sich vor diesem Horizont etwas zeigt, etwas Bewegtes und Belebtes, erscheint es, mehr noch: Menschen treten – wie auf einer Bühne – buchstäblich auf. Der Andere zeigt sich – wie ich – herausgetreten aus seiner intimen, privaten Verborgenheit. Er tritt ins Da-sein – für mich. Ja, es gibt ihn, es gibt Andere!

Ich nehme ihn erstmals wieder wahr in seinem Gegebensein – und wie in einer Kippfigur von Figur und Grund – tritt auch dieses Es mehr in Erscheinung, welches gibt – dieser tiefe, stille, wirkende Horizont.

Der Andere erscheint durch sein Auftauchen aus seiner Verborgenheit, durch seine Entferntheit erstmals als Anderer, er zeigt sich mir in seiner unvertrauten Andersheit. Dies bewirkt zugleich auch eine Ent-Fernung seiner, sofern er mir – sich sonst als Einzelner und Anderer auflösend und verschwindend in der Masse – gewöhnlich viel ferner ist. Jetzt erhält er scharfe Konturen. Diese sehend grüsse ich und werde gegrüsst, von Alten, von Jugendlichen, von Radfahrern – und selbst aus den Autos heraus winkt es zuweilen.

Diese Balance von Ferne und Nähe im Sinne der Ent-Fernung ist neu. Das selbstverständliche Umarmen und Händeschütteln verwischte und übertölpelte die Fremdheit und Andersheit des Anderen. Jetzt begegnet er wieder, während wir ihn sonst in unsere Welt hinein vereinnahmen und das «Gegen», das in ihm liegt, stillschweigend übergehen. Dass das Nahe, dass der Nächste auch immer ein «Gegen» beinhaltet, dass das Gegebene auch immer ein Nehmendes ist, uns auch immer etwas vom eigenen Raum nimmt, wird jetzt bewusst. Die Furcht vor Ansteckung als Furcht davor, der mir gegebene Andere würde mir das Meine und Eigene, nicht zuletzt mein Leben, gerade nehmen, rückt die Begegnung mit dem Anderen zurecht: Achtung und Ehrfurcht schleichen sich unter dem dunklen Schleier der Angst wieder in unser Bezogensein zurück, aus dem wir sie unbemerkt verbannt hatten.

(Jung sieht in seinen „Theoretischen Überlegungen“ (1946/54) die größte Bedrohung fortschreitender Bewusstseinsentwicklung in der Projektion der Gleichheit der Subjekte, welche uns suggeriert, der andere müsse genau so denken und fühlen, genauso sein wie wir selbst. Für Jung ist die Erkenntnis des Anderen als Andersartigen, als Fremdem und Unbekanntem ein zentraler Schritt in der Individuation, und er ist – dies ist zirkulär – erst unter der Voraussetzung von Individuation möglich. Nur der, der sich in seiner Einzelheit und Einzigkeit wahrnimmt, vermag – wenn wir Jung zuhören – auch den Anderen in seiner Andersheit wahrzunehmen …)

Statt uns die Hand zu geben, schauen wir uns in die Augen, verneigen uns in gebührendem Abstand voreinander und geben einander so wieder ein Stück verlorener Würde, verlorenen „Standes“ und Grundes, Standes auf je eigenem Grunde, zurück.

Das panikartige flächendeckende Auswerfen des digitalen Netzes hat vor diesem Hintergrund etwas Verfängliches! Wir preisen es als beschleunigten Fortschritt zum Ziel totaler Digitalisierung, zu welchem wir ohnehin – nur bisher viel langsamer – unterwegs waren. Dabei kompensieren wir nur unsere Angst vor dem Aushalten des sozialen Vakuums, der konstruktiven Ferne, die sich schließlich als Ent-Fernung erweisen könnte, aber erst, nachdem wir den Anderen als Anderen für uns wiedergewonnen und bewahrt haben, nachdem wir ihn in Dankbarkeit für sein Gegebensein in

seinem ureigensten, verborgenen und nicht zuletzt auch geheimnisvollen Horizont sein lassen können.

Der digitalen Präsenz des Anderen eignet nichts von dieser konstruktiven bewusstseinsbildenden Dynamik von Ferne und Ent-Fernung – im Gegenteil wird der Andere aus seinem intimen, privaten Raum herausgeschnitten und uns in unserem privaten Raum schemenhaft präsentiert. Er erscheint nicht vor einem Tiefenhorizont spürbarer Verborgenheit.

Es gibt ihn – den Anderen – auch nicht: Er ist uns ohne die Tiefe eines Horizonts nicht „annähernd“ gegeben – so wie auch das Es, welches (ihn uns) gibt, keine Möglichkeit hat, im Kippen von Figur und Grund plötzlich selbst als Gebendes in Erscheinung zu treten.

Ohne „Grund“ aber ist uns der Andere – als Objekt auf unserem „Schirm“ – platt präsentiert. In dieser platten, grundlosen Präsentation liegt damit auch die Vernichtung von Ferne. Wo keine Ferne möglich ist, findet auch keine Nähe statt. Der Andere wird zum beliebig auf- und abrufbaren „Kontakt“, konsumierbar, ein-, aus- und aufschaltbar, und reiht sich phänomenologisch ein in das Heer von Fernsehschauspielern, Moderatorinnen und beliebigen Statisten, die über unsere Schirme tanzen.

Die ferne- und nähelose Präsentation anonymisiert den uns auch noch so bekannten Anderen. Bildgeworden ist ihm die Schärfe persönlicher Kontur entzogen, gleicht er sich den unzähligen bildgewordenen „Anderen“ und ihrer Beliebigkeit an. Er gerät damit für uns – unter der Suggestion permanent abrufbarer, da vernetzter Nähe – in den unwiderstehlichen Sog zunehmender Gleich-Gültigkeit.

3 Antworten zu “Es gibt Andere – Gedanken auf einem Spaziergang”

  1. Lieber Michael,
    mir fiel beim Lesen deiner sehr anregenden und sensiblen Gedanken Alberto Giacometti ein, für den das Fremdwerden des Vertrauten, also die unvermittelte Abstandnahme zum Anderen gewissermaßen die initiale Grunderschütterung für sein eigentliches Werk war. Er hatte ja ursprünglich recht routiniert und wenig originell gemalt und sich dann in den damals angesagten surrealistischen Verfahren versucht. Es wäre vielleicht für ihn immer so weitergegangen, wenn er nicht nach einem Kinobesuch, in dem er bereits seltsam zerhackte Wahrnehmungen hatte, auf die Straße tretend eine verwirrende und ihn nachhaltig prägende Erfahrung gemacht hätte. Er beschreibt sie als das merkwürdige Gefühl „vor etwas Unbekanntem zu stehen. Die Wirklichkeit hatte sich vollkommen gewandelt. … es war etwas nie Gesehenes, Ungeahntes, Wunderbares … es war ein Stille um die Dinge, eine ganz unglaubliche Stille. Und von da an hat sich das alles entwickelt. Von da an war mein Blick verändert“.
    Der Alltag bietet jetzt viele Gelegenheiten solcher Erfahrungen verunsichernder Fremdheit. Es ist unangebracht, sie in oberflächlicher Weise zu ästhetisieren, aber was in ihnen hervortritt ist doch etwas Wesentliches, das auf irgendeine Weise noch zur Sprache oder ins Bild kommen wird.

    Vielen Dank für Deinen Text!
    Herzlich,
    Stefan Wolf

    1. Lieber Michael, gerne stimme ich Stefan zu und danke Dir sehr für Deinen gehaltvollen Beitrag. „Es gibt den Anderen“, das klingt zunächst so selbstverständlich, und doch ist es ein Geheimnis. Was ist das „Es“, das „gibt“? Wie zeigt sich uns der Andere, wie tritt er in Erscheinung? Das Erscheinen eines jeden in der Menge, heißt es in einem Gedicht, ich glaube von Nicolas Born. Eine wahrhafte Begegnung ist -wie Du schreibst- etwas sehr anderes als die Vernetzung von Internet-Auftritten. Nur wo es Ferne geben darf, kann es Nähe geben, ein weiser Satz. Herzlichen Dank und Grüße nach Einsiedeln von Michael Lindner

  2. Lieber Michael, gerne stimme ich Stefan zu und bin voll des Lobes über Deinen mir sehr wertvollen Beitrag. Du hast mich bereichert. „Es gibt den Anderen“, das klingt lapidar und selbstverständlich, ist aber ein Geheimnis. Was ist das „Es“, das „gibt“? Wie tritt der Andere für uns in Erscheinung, wie entbirgt er sich uns? Nur wo es Ferne geben darf, kann es Nähe geben, ein weiser Satz. Eine wahrhafte Begegnung ist etwas anderes als die Vernetzung von Online-Präsenzen. Nochmals herzlichen Dank und Grüße nach Einsiedeln von Michael Lindner

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